Eines vorweg: Es empfiehlt sich, nichts über diesen Film vorab zu lesen, um sich mit voller Wucht von diesem dröhnenden Meisterwerk überrollen zu lassen. Es wartet eines der außergewöhnlichsten Kinoerlebnisse des Jahres.
Nicolas Winding Refn, der uns bereits mit umstrittenen Meisterwerken wie Valhalla Rising, Drive und Only God Forgives begeistert und vor den Kopf gestoßen hat, bearbeitet in seinem neuesten Film The Neon Demon die Schattenseiten der glamourösen Model-Welt. Schon das Intro führt uns, untermalt von den düsteren und dennoch meditativen Klängen des großartigen Soundtracks von Cliff Martinez, in die unheilvolle Stimmung des Films.
Die junge und bildhübsche Jesse (Elle Fanning) ist das neue Mädl in der Modewelt von Los Angeles. Mit ihrer natürlichen, fast naiv kindlichen Art erregt sie schnell das Interesse bekannter Fotografen und Designer. So verwundert es auch nicht, dass sie, als sie von der Visagistin Ruby (Jena Melone) auf eine Szeneparty eingeladen wird, von einer Model-Kollegin gefragt wird, wen sie für diesen rasanten Aufstieg denn vögeln würde. Aus dieser anfänglichen Provokation entwickelt sich schnell gefährlicher Neid, als Jesse anderen Models immer wichtigere Jobs wegnimmt. The Neon Demon wäre nicht von Nicolas Winding Refn, wenn diese Konkurrenz im Verlauf des zweistündigen Films nicht zu einigen magenumdrehenden Ereignissen führen würde.
Während Refns letzter Film Only God Forgives fast durchgängig eine Gewaltorgie abbildete, überwiegen in Neon Demon in der ersten Hälfte des Films Glanz und Glamour. Typisch für Refns Kinematografie wirken bis ins Detail durchkomponierte, ruhige Einstellungen, die zu jeder Zeit perfekt vom Soundtrack mitgetragen werden. Überzeichnet und dennoch glaubwürdig taucht der Film in die überkünstelte Anmut der Modewelt und des nächtlichen Los Angeles.
Eines der Hauptthemen des Films ist das Verständnis von Schönheit. Ein Verständnis, das vom Film nach und nach symbolisch dekonstruiert wird, bis es sich zu Unverständnis wandelt – dabei bleibt sich die Inszenierung immer treu und zeigt auch die hässlichsten Geschehnisse in dekadent schönen Bildern.
Wer sich nach Only God Forgives noch mehr Gewalt erwartet, wird enttäuscht. Auch die Bezeichnung Horror verfehlt dieses Meisterwerk zur Gänze. Es ergeben sich zwar, wie könnte es bei Refn anders sein, kurze Gewaltausbrüche, diese sind aber weit weniger schmerzvoll inszeniert als etwa in Drive oder Only God Forgives. Weniger intensiv sind sie, vor allem, weil sie im eigenwilligen Kontrast zum Rest der schimmernden Modewelt stehen, deswegen nicht.
Ein Novum in Refns Œuvre ist die Geschlechterverteilung der Hauptrollen. Männer, etwa Keanu Reeves als gierigiger Motel-Besitzer, tauchen in The Neon Demon als unsympathische Randerscheinungen auf, die dem perfiden Machtspiel und gnadenlosen Konkurrenzkampf der Models Jesse, Sarah (Abbey Lee) und Gigi (Bella Heathcote) aber nicht weiter im Wege stehen. Während Sarah und Gigi, die im Neonlicht unheimlich unnatürlich und puppenhaft erstrahlen, als klare Antagonistinnen vorgeführt werden, ist Jesses Rolle rätselhafter. Einerseits wirkt sie leichtgläubig und manipulierbar, schnell stellt sich aber heraus, dass sie mehr als der unerfahrene Spielball ihres Umfelds zu sein scheint. „I am a dangerous girl!“, prophezeit sie ihren Konkurrentinnen. Dabei schafft es Fanning auch noch unter Tonnen von Make-Up ein Spektrum an verschiedenen Charakterzügen zu präsentieren, die uns als Zusehende immer weiter von ihrer hübschen äußeren Fassade zur Ergründung ihres wahren Charakters drängen, der sich mit zunehmenden Verlauf des Films ändert. Was am Ende bleibt, ist eine expressionistische Skizzierung und Dekonstruktion der menschenunwürdigen Modewelt.
Es ist ausgesprochen erfreulich, wenn es aus dem Meer belangloser Blockbuster und CGI-Feuerwerke ein Film wie The Neon Demon bis ans Mainstream-Festland schafft. Eine pessimistische Handlung, die in einer verstörenden wie symbolträchtigen Klimax endet, durchgehend überzeugende Schauspielerinnen und Schauspieler, eine Bildkomposition wie man sie in Hollywood selten genießen kann und ein Score, der die Zusehenden geradezu an die ästhetische Inszenierung kettet: Dieser Film wird die Besucherinnen und Besucher vor den Kopf stoßen, begeistern und teilen. Vor allem wirkt er noch lange nach dem Kinobesuch und lädt zum Diskutieren, Interpretieren und Hinterfragen ein. Ich hatte befürchtet, Refn würde mich enttäuschen und meine Erwartungen seien zu hoch, doch Refn ist es gelungen, seinem Stil treu zu bleiben und sich dennoch nicht zu wiederholen. So soll Film sein!
The Neon Demon
Regie: Nicolas Winding Refn
Drehbuch: Nicolas Winding Refn, Mary Laws, Polly Stenham
Soundtrack: Cliff Martinez
Cast: Elle Fanning, Jena Malone, Abbey Lee, Bella Heathcote, Keanu Reeves, Christina Hendricks …
Laufzeit: 110 Minuten
FSK: ausständig
Kinostart: 23.06.16 (AT)