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Warum man in der Politik Menschen mit Beeinträchtigung braucht

posted by Daniel Winter 25. Februar 2019 2 Comments

Interview mit Paul Bauchinger

Paul Bauchinger ist ein medizinisches Wunder und sogar österreichischer Schwimmstaatsmeister im Behindertensport. Der SPÖ-Gemeinderatskandidat (Platz 30) in der Stadt Salzburg hat kein Kleinhirn. Für gewöhnlich ist man ohne diesen Bereich des Gehirns weder fähig zu gehen noch kann man gezielt greifen oder das Gleichgewicht kontrollieren. Im Falle von Paul ist das anders. Sein Stammhirn hat zum größten Teil die Aufgaben des Kleinhirns übernommen. Obwohl dieses für die Motorik verantwortlich ist, hat Paul im Alter von fünf Jahren das Gehen gelernt und kann sich frei bewegen. Auf den ersten Blick merkt man dem 34-jährigen Mann kaum an, dass er zusätzlich geistig beeinträchtigt ist. Er ist aufmerksam und intelligent. Wer mit ihm spricht, sollte aufmerksam zuhören. Die Motorik seiner Stimmbänder verrät die Beeinträchtigung nämlich doch. Außerdem kann er weder lesen, rechnen, noch schreiben. Das hält ihn aber nicht davon ab, sich politisch zu engagieren. Hallo Salzburg hatte die Möglichkeit, mit ihm zu sprechen.

Du kannst nicht lesen, bist aber trotzdem auf Facebook aktiv. Wie funktioniert das?

Auch wenn ich nicht lesen kann, habe ich ein ausgeprägtes visuelles Gedächtnis. Ich kann mir Wortbilder merken und sie wiedererkennen. Ich weiß, wie das Wort „Mama“ aussieht und weiß dann auch, was es bedeutet. Ich schaffe es aber nicht, Silben zusammenzulauten. Sobald irgendjemand Mami statt Mama schreibt, kann ich das geschriebene Wort weder lesen, noch herleiten. Auf Facebook sehe ich die Gesichter, ich erkenne manche Namen und Beiträge lasse ich mir mithilfe der Sprachausgabe vorlesen. Wenn mich etwas interessiert oder mir etwas gefällt, dann teile ich das.

Viele Beiträge, die du teilst, sind politisch.

Ja, das stimmt. Ich bin in einer Familie mit durch und durch sozialdemokratischen Wurzeln aufgewachsen und wurde so sozialisiert. Meine Großeltern, sie haben in Ulm gelebt, waren bereits SPD-Mitglieder. Ich selbst habe mir aber immer meine eigenen Gedanken gemacht. Als ich zum ersten Mal wählen durfte, hat mir meine Mama alle Wahlprogramme vorgelesen, damit ich mir eine Meinung bilden konnte. Ich bin aber auch selbst politisch aktiv. Ich arbeite ja seit 2006 bei der Lebenshilfe in einer Außengruppe mit integrativer Arbeitsbegleitung und setze mich dort als Selbstvertreter für die Belange meine Kolleginnen und Kollegen mit Beeinträchtigung ein.

Was macht ein Selbstvertreter? Ist das so etwas Ähnliches wie ein Betriebsrat?

Genau. Wusstest du zum Beispiel, dass wir keinen Lohn, sondern nur ein Taschengeld bekommen?

Nein. Wie hoch ist das Taschengeld?

89 Euro pro Monat. Was aber dazukommt, ist, dass wir sozialrechtlich nicht abgesichert sind. Ich habe keinen Pensionsanspruch. Obwohl wir arbeiten, sind meine Kollegen und ich Bittsteller. Das ärgert mich sogar noch mehr als der Umstand, dass unsere Arbeit nur mit einem kleinen Taschengeld belohnt wird. Ich kandidiere auch darum als Gemeinderat, weil ich eine Stimme für Leute mit Beeinträchtigung sein möchte. Fast immer werden politische Entscheidungen über uns getroffen, ohne dass überhaupt irgendjemand mit uns spricht.

Bernhard Auinger ist mein Freund.”

Wie ist es eigentlich dazu gekommen, dass du für den Gemeinderat kandidierst?

Bernhard Auinger ist mein Freund. Ich habe ihn vor ein paar Jahren beim Inklusionsfest in Rif kennengelernt. Er ist auf mich zugekommen und wir haben uns sofort gut verstanden. Seither unterstütze ich ihn und wir stehen in Kontakt. Bernhard ist ein wirklich lieber Mensch und sehr sozial. Jeden Mittwoch unterstütze ich ihn und sein Team ehrenamtlich mit Botengängen und anderen Hilfstätigkeiten. Und oft haben wir über Politik diskutiert. Bei einem Gespräch habe ich dann einmal gesagt, dass ich auch gerne für den Gemeinderat kandidieren würde. Und so ist das alles dann entstanden.

Warum möchtest du in den Gemeinderat?

Eigentlich geht es mir nicht um mich, sondern um die anderen. Nicht jeder hat das Glück, so eine Mutter und so gute Unterstützung zu haben wie ich. Sie ist eine tolle Frau. Sie ist die beste Mama auf der ganzen Welt. Dieses Privileg möchte ich nutzen, um mich für andere Menschen mit Beeinträchtigung einzusetzen.

Welche Rolle spielt deine Mutter in deinem Leben?

Meine Mutter ist sehr wichtig für mich. Ich wohne bei ihr und sie kennt mich wie niemand sonst. Als ich zwei Jahre alt war und noch niemand wusste, warum ich noch nicht gehen konnte, ist sie mit mir von Arzt zu Arzt gegangen. So sind wir auf die Vojta-Therapie gestoßen. Das ist eine Behandlungsmethode, die mir sehr geholfen hat. Ab meinem dritten Lebensjahr habe ich bis zum Ende meiner Schulpflicht integrative Einrichtungen besucht. Meine Mutter hat dafür gesorgt, dass ich mein Potential ausschöpfen konnte und ist noch heute für mich da. Es gibt Sachen, die kann ich sogar besser als sie. Ich habe zum Beispiel einen hervorragenden Orientierungssinn. Sie liest mir Dinge vor und unterstützt mich, wenn mich der Alltag vor Probleme stellt.

Erlebst du im Alltag oft Situationen, in denen du auf Hilfe angewiesen bist?

Ich komme gut zurecht. Aber ich kann dir von einer Situation in der S-Bahn erzählen.

Erzähl! Hattest du kein Ticket?

Eben doch. Ich habe dem Kontrolleur meine Monatskarte gezeigt. Obwohl ich mich mit der S-Bahn innerhalb der Kernzone bewegt habe, behauptete der dann, dass diese nur im Obus gültig sei. Ehe ich mich versah, war ich schon rausgeschmissen. Wenn dir jemand Unrecht tut und dich die Menschen nicht verstehen, bist du sehr schnell auf die Hilfe einer verständnisvollen Person angewiesen. An dieser Stelle möchte ich übrigens noch etwas sagen. Derzeit bekommt man als beeinträchtigte Person nur Monatskarten vergünstigt, die in der Kernzone gelten. Ich empfinde das als Frechheit und möchte, dass es vergünstigte Jahreskarten gibt. Wenn ich einmal in den Gemeinderat komme, werde ich mich dafür einsetzen, dass Menschen mit Beeinträchtigung gratis mit den Öffis fahren.

Wer Unterstützung braucht, hat trotzdem das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben.”

Darf ich noch einmal wegen deiner Beeinträchtigung nachfragen?

Ja, natürlich.

Du hast vorhin davon gesprochen, dass du kein Kleinhirn hast. Was bedeutet das?

Es bedeutet, dass ich ein medizinisches Wunder bin (strahlt über sein ganzes Gesicht). Diagnostiziert wurde, dass ich nie gehen werden könne. Ich war eine Frühgeburt. Als mich meine Mutter in der 35. Schwangerschaftswoche zur Welt gebracht hat, habe ich gerade einmal 1500 Gramm gewogen. Ich war sogar noch einmal um ein Kilogramm leichter als das normalerweise in diesem Entwicklungsstadium der Fall ist. Da war mein Kleinhirn einfach noch nicht ausgebildet. Es ist dann auch später nicht mehr nachgewachsen. Auf Computertomographie-Bildern sieht man nur ein paar kleine Nervenstränge. Dafür haben andere Bereiche in meinem Gehirn die wichtigsten Funktionen übernommen. Gehen, schwimmen…

Du kannst schwimmen?

Ja, ich war schon österreichischer Staatsmeister. Auf 50 Meter Brust halte ich aktuell den österreichischen Rekord in meiner Gruppe. Mit sieben Jahren, also zwei Jahre, nachdem ich gehen gelernt habe, habe ich mit dem Schwimmen begonnen. Es sieht unkoordiniert aus, aber ich bin trotzdem schnell. Damit ich fit bleibe, gehe ich zweimal pro Woche  zum Training.

Das alles ist wirklich sehr beeindruckend. Hast du trotzdem den Eindruck, dass man mit einer Beeinträchtigung oft unterschätzt wird?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Viele Menschen können sich nicht vorstellen, wie es ist, mit einer Beeinträchtigung zu leben. Es ist eher so: Nur weil man eine Beeinträchtigung hat, ist man nicht blöd. Auch ich habe Talente. Es gibt Sachen, die kann ich besser als die meisten anderen. Dann gibt es Dinge, die ich nicht so gut kann, aber schaffe. Ich kann gehen. Mein Gleichgewicht und meine Koordination sind aber nicht so gut. Und dann gibt es Dinge, bei denen ich immer auf Hilfe angewiesen sein werde. Wie bereits erwähnt habe ich das große Glück, dass ich bei meiner Mutter leben kann. Sie ist wirklich sehr engagiert. Ich weiß nicht, was ich ohne sie tun würde.

Eine Freundin von mir wohnt in einer Wohnanlage für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Sie bekommt Unterstützung, lebt aber ganz alleine in ihren vier Wänden. Ich könnte mir das momentan nicht vorstellen und würde mich dort sehr einsam fühlen. Besser gefallen mir da schon betreute Wohngemeinschaften.

Wird man mit einer Beeinträchtigung von der Politik alleine gelassen?

Manchmal, aber darauf wollte ich jetzt gar nicht hinaus. Ich wollte sagen, dass man mit einer Beeinträchtigung, aber wahrscheinlich auch dann, wenn man alt ist, oft gleichzeitig unterschätzt und überfordert wird. Ich lebe mit einer Einschränkung. Ich werde daher nie ganz selbstständig sein. Aber auch wenn ich Unterstützung brauche, habe ich das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben. Ich habe eine Stimme und ich habe etwas zu sagen.

Das ist ein schöner Satz zum Abschluss. Vielen Dank Pauli, dass du dir Zeit genommen hast. Alles Gute für den restlichen Wahlkampf.

Danke. Heute Nachmittag bin ich bei einer Verteilaktion in Parsch.

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