Politik

Was machen wir nun mit den Türkinnen und Türken in Österreich?

posted by Jutta Moser-Daringer 4. Mai 2017 0 comments

Ein Kommentar:

Das problematische Narrativ:

„Sollen sie doch nach Hause gehen zu ihrem Erdogan und dort glücklich werden in seinem diktatorischen System“ – so könnte man die Stimmung in unserem Land zusammenfassen, wenn es um die Türkei geht und das kommt diesmal nicht nur von der FPÖ, von der man das ja ohnehin nicht anders erwartet. Auch viele andere scheinen diese Einstellung zu teilen. Und dann auch noch die Sache mit den Doppelstaatsbürgerschaften. Diese bringt für viele das  das Fass zum überlaufen, weswegen selbst Menschen, die sonst nicht durch fremdenfeindliche Aussagen auffallen, folgende Fragen stellen: Was machen wir nur mit den hier lebenden Türk_innen? Erst kommen sie zu uns und genießen alle Vorteile unseres demokratischen Staates und dann wählen sie hier mehrheitlich für den Aufbau eines demokratiereduzierenden Präsidialsystems in der Türkei? Haben sie denn bei uns nicht gelernt, wie wichtig die Demokratie ist? Verstehen sie denn nicht, dass sie damit alles verwerfen, wofür Kemal Atatürk eingetreten ist? Verstehen sie denn nicht, dass sie damit den Aufbau einer Diktatur ermöglichen?

Wann haben wir verlernt, sachlich zu diskutieren?

Natürlich ist die Entwicklung in der Türkei mehr als nur besorgniserregend. Natürlich ist es genauso bedenklich und besorgniserregend, wenn 73,23 Prozent der Türken in Österreich für das Referendum gestimmt haben. Die Diskussion und die Stimmung, die sich hier in Österreich breit machen, sind aber ebenso bedenklich und besorgniserregend. So frag ich mich immer wieder: Wann haben wir verlernt, sachlich zu diskutieren? Seit wann sind konkrete, umsetzbare Lösungen nicht mehr erwünscht? Wann werden wir wieder beginnen, Fakten zu analysieren und auf die Kraft der Argumente zu vertrauen?

„Geht, ich will nicht, dass ihr leidet“
(H.C. Strache)

So hat H.C. Strache vergangene Woche einen offenen Brief „verfasst“, den er unter dem Titel „Geht, ich will nicht, dass ihr leidet“ auf seiner Facebook-Seite veröffentlicht hat. Dass der Text gar nicht von ihm selbst war, sondern nur von ihm „interpretiert und ergänzt wurde“, muss hier kurz erwähnt werden, weil es mal wieder zeigt, welch Geistes Kind er ist. Er fordert in diesem Brief die Türkinnen und Türken auf, das Land zu verlassen, denn er wolle sie von ihrem Leid erlösen, bei uns leben zu müssen. Als besorgter Staatsbürger und Möchtegern-Kanzler will er vorgeblich natürlich unsere Demokratie schützen. Dann unterschreibt er auch noch mit:
H.C. Strache und die Mehrheit der Bürger in Österreich und Europa.

Woher nimmt dieser Mann das Recht, für alle “Bürger” zu sprechen?

Warum glaubt er jetzt auf einmal, das Recht zu besitzen, im Namen der Bürger_innen Österreichs und Europas einen Brief zu veröffentlichen? Immerhin ist er zwar seit 2005 Bundesparteiobmann der FPÖ, aber konnte seither noch nicht eine einzige Wahl für sich gewinnen. Woher nimmt dieser Mann das Recht, für alle “Bürger” zu sprechen? Woher nimmt dieser Mann das Recht, sich als “Bürgerkanzler” zu bezeichnen? In einer Demokratie sollten alle Parteien für den Schutz der Demokratie eintreten und sich nicht selbst über die Spielregeln erheben.

Laut Strache ist das Wahlergebnis der Türk_innen in Österreich ein stichfester Beleg für das, was in gewissen Kreisen „eh schon immer jeder wusste“: „Der Türke ist ein Problem“. Und jetzt ist es eindeutig, denn immerhin haben ja diese 73,23 Prozent der in Österreich lebenden Türken für Erdogans Referendum gestimmt, oder etwa nicht?

Das andere Narrativ:

Nein, haben sie nicht. Genau genommen waren 108.561 wahlberechtigte Türk_innen in Österreich registriert, von denen 38.215 für und 13.972 gegen die Einführung des Präsidialsystems in der Türkei gestimmt haben. Genau genommen sind also mehr als 50 Prozent nicht mal zur Wahl gegangen.

Die Mehrheit aller Türkinnen und Türken, die in Österreich leben, haben nicht für den Rückbau der Demokratie in der Türkei gestimmt.

Jetzt also so zu tun, als hätten alle hier lebenden Türk_innen für Erdogan gestimmt und als würden alle eine Gefahr für unser schönes Österreich, für unsere Demokratie darstellen, ist wirklich bedenklich. Seit wann beurteilen wir Menschen ausschließlich nach ihrer Herkunft? Nach ihrer Religion? Oder besser gefragt, seit wann wieder? Und seit wann ist es gesellschaftlich akzeptiert, dass Fakten verdreht werden?

Hinzu kommt, dass wir auch nicht vergessen sollten, dass die meisten hier lebenden Türk_innen oder ihre Eltern als Gastarbeiter_innen nach Österreich gekommen sind. Grundlage dafür war das Raab-Olah-Abkommen von 1961, benannt nach dem damaligen Präsidenten der Bundeswirtschaftskammer Julius Raab und dem Präsidenten des Gewerkschaftsbundes Franz Olah. Nachdem Österreich einen immensen Facharbeiter_innenmangel in den 1960ern hatte und dringend Arbeitskräfte brauchte, hat man eben aus unterschiedlichen Ländern gezielt Menschen angeworben, um hier zu arbeiten. Diese „Gastarbeiter“ sollten dabei helfen, unser Land aufzubauen. Sie haben einen wesentlichen Beitrag für Österreich geleistet.

Besteht unser Dank dafür nun darin, alle in einen Topf zu werfen und nicht mehr zu differenzieren? Wollen wir sie gar aus unserem Land vertreiben, ganz gleich, was dann in der Türkei mit ihnen passiert? In das Land, in dem die Sippenhaft wieder eingeführt wurde und unbequeme Menschen ohne Gerichtsverfahren eingesperrt werden? Ich denke nicht.

Die Türkei im globalen Kontext

Wir sollten die Entwicklungen in der Türkei ebensowenig ohne einen Blick auf die globalen Entwicklungen beurteilen. Denn, dass sich von jenen, die zur Wahl gegangen sind, ein Großteil für das Referendum ausgesprochen hat, schockiert mich auch zutiefst. Nicht weniger geschockt war ich allerdings auch beim BREXIT, bei der Wahl Donald Trumps, beim Aufstieg der Rechten in Europa, die gezielt auf eine Spaltung der Gesellschaft hinarbeiten… Beispiele gibt es derzeit leider viele. Diesbezüglich kann ich tatsächlich nur sagen: Ich verstehe die Welt nicht mehr. Warum verabschieden wir uns von unseren demokratischen Systemen? Vom lang erkämpften inneren und äußeren Frieden? Warum gibt es so viele, die zum eigenen Machtausbau die Gesellschaft spalten wollen?

Wir dürfen uns nicht von Angst leiten lassen, wenn unsere Demokratie Bestand haben soll.

Natürlich kann man BREXIT, Trump, Erdogan, Europas Rechtspopulisten, usw. auch nicht in einen Topf werfen, sondern muss gerade da sehr differenziert sein.Was man aber durchaus beobachten kann, ist, dass sie alle das Produkt unserer heutigen Zeit sind. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs. Die Kluft zwischen Arm und Reich wird größer, weil die Mittelschicht zunehmend wegzubrechen droht. Die Kluft zwischen den Löhnen und den Lebenserhaltungskosten, sofern überhaupt ein Arbeitsplatz vorhanden ist, nimmt zu.

Wir spüren zunehmend, wie sich das Klima verändert und viele Gebiete auf dieser Erde sind nicht mehr bewohnbar. In Teilen Afrikas herrscht derzeit eine der schlimmsten Hungerkatastrophen der Menschheitsgeschichte. Migrationsbewegungen gab es zwar immer; denn wer würde heute in den USA, Lateinamerika, Kanada, Australien leben, wenn es keine Einwanderung gegeben hätte? Doch waren sie in der Neuzeit noch nie so stark bzw. so sehr von Not getrieben. Dennoch müssen wir erst lernen, mit der weltweit zu beobachtenden Völkerwanderung umzugehen. Eine Zeit des Umbruchs birgt immer viele Chancen in sich, aber natürlich auch Risiken. Die Gefahr ist, dass viele kleine Fehlentscheidungen eine große Katastrophe auslösen. Die Angst der Menschen vor der Zukunft ist berechtigt. Wir dürfen uns aber nicht von unserer Angst leiten lassen, wenn wir weiterhin in einem friedlichen Europa leben wollen, wenn unsere Demokratie weiter bestehen soll. Insofern sollten wir uns in erster Linie dafür einsetzen, dass wir unsere Demokratie verteidigen und gleichzeitig weiterentwickeln.

Die Verteidigung unserer Demokratie

Anstatt also jetzt nur auf die Türkei zu blicken, wäre es angebracht, auch einen Blick auf Österreich und Europa zu werfen. Derzeit wird darüber debattiert, ob wir das Versammlungs- und Demonstrationsrecht einschränken. Einschränkungen der Freiheits- und Datenschutzrechte werden im Namen der „Terrorismusbekämpfung“ gefordert – meist ausgerechnet von jenen Parteien, die gleichzeitig eine Liberalisierung der Waffengesetze fordern, denn „man muss sich ja selbst verteidigen können“. Wir diskutieren über die Kürzung der Mindestsicherung, die Kürzung der Familienbeihilfe und gleichzeitig setzen wir keine oder kaum Maßnahmen gegen Steuerflüchtlinge? Trotz Panama Papers? Es gibt sehr viele Menschen in Österreich, die klar sagen, dass Van der Bellen nicht „ihr“ Präsident ist, sondern Hofer – wir haben drei Mal gewählt und dennoch wird das Wahlergebnis von vielen nicht anerkannt. Ja, wie stabil ist eigentlich unsere Demokratie?

Das größte Problem sind dabei die Populist_innen Europas. Und offen gesagt, für die Demokratie sind sie eine Gefahr, egal ob rechts, links oder orientierungslos. Es sind all jene Kräfte, die gezielt die Ängste der Menschen schüren. Die das Misstrauen der Menschen in den Staat und das politische System zerstören wollen, um Macht zu gewinnen. Die das Misstrauen der Menschen in die Medien schüren, alles als Fake News abkanzeln, was nicht ins eigene Programm passt und gleichzeitig über ihre eigenen Kanäle reinste Propaganda verbreiten. Die für alles der EU die Schuld geben und das Friedensprojekt zerstören wollen – ohne irgendein alternatives Konzept, wie ein friedliches Europa, dann noch aussehen könnte!

Wenn ich mir Kommentare in Foren ansehe, bin ich immer wieder schockiert, wie hemmungslos hier gefordert wird, dass man kritische Journalist_innen endlich loswerden muss. Kommentare, mit denen Vertreter_innen der SPÖ und der Grünen Sachen vorgeworfen werden, die jeglicher Grundlage entbehren, vermerkt mit einem „ihr gehörts alle eingesperrt“. „Vaterlandsverräter“, „Verräter am österreichischen Volk“,  „die Förderer der Islamisierung Europas“, „Willkommensklatscher“, „linkslinke Gutmenschen“…die Liste könnte man jetzt ewig fortsetzen… Ja, schreckt ihr euch denn nicht mal vor euch selbst? Wollt ihr wirklich in so einem Land leben? Kritisiert ihr nicht gerade das in der Türkei? Den Umgang mit Andersdenkenden, mit Journalist_innen, mit der Opposition?

Konstruktive Kräfte – vereinigt euch!

Nachdem es überall auf der Welt Kräfte gibt, die versuchen, die verankerten demokratischen Strukturen zu zerstören und im Namen der Sicherheit den Frieden gefährden, ist es Zeit, dass sich die konstruktiven Kräfte in Europa vereinen, um diese Angriffe abzuwehren und unsere Demokratie zu verteidigen. Und ich bin der festen Überzeugung, dass es diese konstruktiven Kräfte in jedem Land, in jeder Religion und auch in jeder Partei gibt…ja, sogar in der FPÖ, auch wenn sie derzeit nicht in den vorderen Reihen zu finden sind, und auch in der Türkei, wo die Abstimmung letzten Endes doch sehr knapp war. Anstatt also Menschen danach zu beurteilen oder besser gesagt, dafür zu verurteilen, wo sie herkommen, welche Religionszugehörigkeit sie haben oder was auch immer, sollten wir gerade jetzt die Solidarität und den gesellschaftlichen Zusammenhalt durch ein Bündnis der konstruktiven Kräfte in Europa fördern. Für ein friedliches, sicheres Europa, wo der Grundgedanke der „Einigkeit in der Vielfalt“ Gültigkeit hat.

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