Tagung in Salzburg widmete sich dem Tabuthema Gewalt in Pflege- und Betreuungseinrichtungen
Ein Bericht von Hannah Wahl
Am 15. Juni 2016 organisierten VertretungsNetz–Bewohnvertretung und das Österreichische Institut für Menschenrechte im UNIPARK Nonntal eine Fachtagung anlässlich des Welttages gegen Misshandlung älterer Menschen. Thema war „Strukturelle und personelle Gewalt in Pflege- und Betreuungseinrichtungen“.
Sechs Vortragende aus verschiedenen Fachrichtungen – von Expert_innen der Rechtswissenschaften, über Erziehungswissenschaften, bis hin zur Forensischen Gerontologie – trugen mit ihren Referaten zu einer multiperspektivischen Auseinandersetzung mit dem Tabuthema Gewalt bei. Die 300 Teilnehmer_innen und die angeregte Diskussion nach den Vorträgen zeigen deutlich, dass die breitere und öffentliche Thematisierung auf großes Interesse stößt.
„Schlechte Arbeitsbedingungen, Zeitdruck, mangelnde Ressourcen, ständige Überlastung, mangelhafte Ausbildung sind nur einige Kriterien die dazu beitragen können, dass sich dadurch auch die Bedingungen für die betreuten Menschen drastisch verschlechtern.“ (Mag.a Alexandra Niedermoser)
Gewalt tritt in Betreuungs- und Pflegeeinrichtungen in verschiedenen Formen auf. Zum einen als physische Gewalt: Grober Umgang mit den Bewohner_innen, zu warmes oder zu kaltes Duschen, mechanische Freiheitsbeschränkungen durch Bettgitter oder Gurtsysteme, Freiheitsbeschränkung durch Medikamenteneinsatz. Zum anderen als psychische Gewalt: Drohungen, Demütigungen, Abwertung; aber auch die Freiheitsbeschränkung durch strukturelle Faktoren des Heimalltages, wie z.B. Schlafenszeiten am frühen Abend sind als Gewalt zu sehen.
Bis 2005 hatten HeimbewohnerInnen keine gesetzliche Vertretung, es bestand eine Art rechtsfreier Raum.
Mag.a Alexandra Niedermoser stellte in ihrem Beitrag fest, dass Gewalt an Bewohner_innen nicht ausschließlich auf ein Fehlverhalten des Pflegepersonales zurückzuführen ist: „Schlechte Arbeitsbedingungen, Zeitdruck, mangelnde Ressourcen, ständige Überlastung, mangelhafte Ausbildung sind nur einige Kriterien die dazu beitragen können, dass sich dadurch auch die Bedingungen für die betreuten Menschen drastisch verschlechtern.“ Eine besonders stark von Freiheitsbeschränkungen betroffene Bewohner- und Patientengruppe ist diejenige mit der Diagnose Demenz. Laut dem Beitrag von Dr. Volker Schönwiese würden Formen von struktureller und personaler Gewalt vor allem existieren, wenn öffentliche Präsenz von Personen mit Unterstützungsbedarf nicht Teil sozialer Kultur ist und diese keine akzeptable Wahlmöglichkeit für ihre Lebensformen haben. Er kritisiert die Ökonomisierung der Pflege und den fehlenden Willen zur Neugestaltung und Umsetzung von gewaltpräventiven Konzepten und stellt folgende These auf: „Im Mittelpunkt der öffentlichen Strukturpolitik steht in der Tendenz die Bewahrung, Erweiterung und Ergänzung des jetzigen Systems, aber keine Umstrukturierung.“
Bis 2005 hatten HeimbewohnerInnen keine gesetzliche Vertretung, es bestand eine Art rechtsfreier Raum. Seit dem Heimaufenthaltsgesetz (HeimAufG) müssen jegliche Arten von Freiheitsbeschränkungen der gesetzlichen Bewohnervertretung gemeldet werden und werden von ihr auf ihre Zulässigkeit überprüft. Freiheitsbeschränkungen können unter gewissen Bedingungen notwendig und auch legitim sein. Im HeimAufG ist eindeutig geregelt, dass Freiheitsbeschränkungen erst als letzte mögliche Maßnahme getätigt werden dürfen: „Eine Freiheitsbeschränkung darf nur vorgenommen werden, wenn 1. der Bewohner psychisch krank oder geistig behindert ist und im Zusammenhang damit sein Leben oder seine Gesundheit oder das Leben oder die Gesundheit anderer ernstlich und erheblich gefährdet, 2. sie zur Abwehr dieser Gefahr unerlässlich und geeignet sowie in ihrer Dauer und Intensität im Verhältnis zur Gefahr angemessen ist sowie 3. diese Gefahr nicht durch andere Maßnahmen, insbesondere schonendere Betreuungs- oder Pflegemaßnahmen, abgewendet werden kann. “ (§4 HeimAufG )
Zusätzlich ist auch die Volksanwaltschaft für die Interessen der BewohnerInnen zuständig.
Besonders oft kommt es zu Freiheitsbeschränkungen mittels Psychopharmaka. Dr. Erich Wahl erläutert dazu in der Österreichischen Zeitschrift für Pflegerecht (2/2016): „Die Verordnung von Psychopharmaka im Heim ist eher die Regel als die Ausnahme und stellt eine Routineangelegenheit dar, ebenso wie die unreflektierte Einnahme der Medikamente durch die PatientInnen.“ Behandelt würden mit Psychopharmaka vor allem sogenannte „Unruhesymptome“, wie Schlafprobleme oder Traurigkeit – schwere psychische Erkrankungen lägen in den meisten Fällen nicht vor. Dr. Stephan Kirste stellt in seinem Beitrag auf der Fachtagung fest: „Die Würde verlangt, dass nicht jede mögliche Behandlung vorgenommen wird, sondern nur diejenige, die der Patient möchte, die seinem mutmaßlichen Willen entspricht und nur hilfsweise, die in seinem Wohl liegt.“ Laut dem Artikel „Psychopharmaka im Seniorenheim“ in der oben genannten Fachzeitschrift von Dr. Erich Wahl werde die Verweigerung der Medikamenteneinnahme oft als Unvernunft oder Renitenz beurteilt. Oftmals erfolge die Medikation trotzdem, beispielsweise gemörsert im Essen.
Ein Schritt in die richtige Richtung stellt zweifelsfrei die Enttabuisierung des Themas Gewalt in Pflege- und Betreuungseinrichtungen dar. Die Tagung am 15. Juni zu diesem Thema hat damit einen wichtigen Beitrag für eine breitere Öffentlichkeit geleistet. Zusätzlich kann eine intensivere Sensibilisierung für dieses Thema für einen selbstkritischeren Umgang mit Heimbewohnern sorgen. Die Bereitschaft, alternative Methoden in der Behandlung auszuprobieren (z.B. heilpädagogische Maßnahmen), könnte damit ansteigen. Zudem bedarf es einer Entökonomisierung der institutionellen Pflege und einer Neuausrichtung auf individuelle Bedürfnisse. Vorurteile gegenüber älteren und beeinträchtigten Menschen müssen abgebaut werden und BewohnerInnen darf ihr Recht auf Selbstbestimmung nicht präventiv abgesprochen werden. Die in der UN-Behindertenrechtskonvention verankerten Rechte müssen konsequent durchgesetzt werden. Auch die soziale und finanzielle Aufwertung des Pflegeberufes ist eine Notwendigkeit, um der Problematik aktiv entgegenzutreten.
Referent_innen
Mag.a Alexandra Niedermoser
VertretungsNetz-Bewohnervertretung, Stv. Bereichsleiterin Salzburg/Tirol
Ao. Univ.-Prof.i.R. Dr. Volker Schönwiese
Universität Innsbruck, Institut für Erziehungswissenschaft
Univ.-Prof. Dr. Stephan Kirste
Universität Salzburg-Fachbereich Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an der RW Fakultät
Az. Prof. Dr. Reinhard Klaushofer
ÖIM, Universität Salzburg-Fachbereich Öffentliches Recht, Leiter der Kommission 2 der Volksanwaltschaft, Organisation der Tagung
Dr. Günther Kräuter
Volksanwaltschaft
Ao. Univ.-Prof.in Dr.in med. univ. Andrea Berzlanovich
Fachbereich Forensische Gerontologie, Medizinische Universität Wien
Mag.a Dr.in Esther Kirchberger, Bakk
Pflegewissenschaftlerin, Mitglied der Kommission 2 der Volksanwaltschaft
Organisation der Tagung
Dr. Erich Wahl, VertretungsNetz-Bewohnervertretung, Bereichsleiter Salzburg/Tirol
Az. Prof. Mag. Dr. Reinhard Klaushofer. ÖIM, Universität Salzburg-Fachbereich Öffentliches Recht, Leiter der Kommission 2 der Volksanwaltschaft
Fotos: Hannah Wahl