Ich muss ehrlich zugeben, dass ich die Lektüre einige Zeit hinausgezögert habe. So schob ich Robert Misiks Porträt über Christian Kern von einer Schreibtischecke zur anderen, von einem Bücherregalbrett zum nächsten. Die Lektüre politischer Biographien benötigt – so behaupte ich – die richtige Stimmung. Und so entschied ich mich im vorsommerlichen Berufstrubel und Stress zwischen Website-Texten, Teilzeitjob und Shitstorm-Management doch lieber für Richard Laymon. Quasi Kontrastprogramm.
Rezensionen sind – vor allem, wenn es um ein derartig dicht gestricktes und sehr persönliches Buch geht – eine Herausforderung. Und noch mehr, wenn der Autor ein anerkannter Journalist und der „Gegenstand“ der amtierende Bundeskanzler und SPÖ-Parteivorsitzende ist. Ich wage es trotzdem und beginne mit dem letzten Absatz des Buchs:
Der Vorhang zu, das letzte Wort. Geben wir es Elfriede Jelinek. Die österreichischen Literaturnobelpreisträgerin wurde vor einiger Zeit in einem Interview gefragt: „Glauben Sie wirklich, dass die Sozialdemokratie reformierbar ist?“ Jelinek gab darauf eine wirklich tiefgründige und schöne Antwort, die getragen war von einem skeptischen Optimismus: „Es wird uns nichts anderes übrig bleiben, als das zu glauben.“
Dieses Zitat steht in meinen Augen für den Geist, der sich durch dieses Porträt zieht. Keineswegs verfällt Robert Misik auch nur irgendwie in eine Lobhudelei (die man by the way auch nicht erwartet, kennt man seine Texte). Misik benennt die Krisen der Sozialdemokratie und die Frage nach der Schaffung einer neuen sozialdemokratischen Erzählung, die ja historisch immer schon den Anspruch eines Korrektivs herrschender Verhältnisse zum Gegenstand hatte. Und somit eigentlich moderner denn je wäre, würde sie nicht schlingern zwischen Unschlüssigkeiten, ob links oder rechts; ob werteverhaftet oder wertekritisch; ob neoliberal oder kapitalismuskritisch; oder einfach „vorwärts“?
Eingebettet in diesen Diskurs steht die Porträtierung Christian Kerns als zielstrebig, überlegt, faktenorientiert. Und zugleich phasenweise zweifelnd, Entscheidungen hinterfragend und Haltungen korrigierend. Das messianische Bild, das vor allem zu Beginn seiner Kanzlerschaft in der Öffentlichkeit und besonders innerhalb der Sozialdemokratie bestand, wird nicht perpetuiert. Zum Glück. Man bekommt jedoch eine Ahnung davon, wie Kern tickt. Und seine verschiedenen Rollen als Alleinerziehender, als Student, Manager, Familienvater, Parteichef und Bundeskanzler stehen nicht im Widerspruch zu-, sondern in absoluter Selbstverständlichkeit nebeneinander. Wirken also nur „natürlich“. Und befinden sich in krassem Gegensatz zu dem, was man sich von einem politischen Porträt landläufig erwarten würde: Einer gewissen Perfektion; als ob man den literarischen Scheinwerfer nur dorthin richten würde, wo sich absolute Fehlerlosigkeit findet. Dass eben dem genau nicht so ist, macht das Buch so lesenswert.
Ein Text, der fließt. Man zählt die gelesenen Seiten nicht. Sondern liest, blättert weiter. Anstrengend ist es zu keinem Zeitpunkt. Systemkritik wechselt sich ab mit biographischen Details, Auszügen aus Gesprächen zwischen Misik und Kern, Historie und Retrospektive. Vom Großen zum Kleinen und wieder zurück. Launig bisweilen. Die Geschwindigkeiten wechseln. Liest man etwa über die Tage vor und während der Übernahme der Kanzlerschaft, so bekommt man doch einen – wenn auch nur ungefähren – Eindruck der herrschenden Stimmung. Wer davon nicht zumindest etwas beeindruckt ist, ist nicht empathisch genug.
Von Seite zu Seite erscheinen die Entscheidungen, die Kern trifft, logischer. Und das Selbstbild, das er nach außen gibt, authentisch. Dennoch ist er da: Der blinde Fleck. Anders gesagt: Als ich die letzte Seite gelesen hatte und das Buch zuschlug, war mein Eindruck nicht der, Christian Kern nun besser zu kennen oder mehr über ihn zu wissen. Das Bild über ihn hatte sich lediglich verfestigt und letztendlich – im positiven Sinn – bestätigt. Der „Buddy“, mit dem man schnell mal auf ein Bier geht, ist er für mich dennoch nicht. Muss auch nicht sein.
Gewiss liest man als bekennende – wenngleich kritische, aber doch überzeugte – Sozialdemokratin dieses Werk anders als jemand, dem weder Geschichte noch Wertekanon der SPÖ vertraut oder eine Anliegen sind. Es ist nicht zuletzt eine Motivation für jene, die täglich zweifeln, ob die Sozialdemokratie nun Zukunft hat oder nicht. Sofern man überhaupt erkennt, dass sich Narrative verändern müssen, um angenommen zu werden. Wenn Robert Misik schreibt „Aber die Sozialdemokratie muss ein neues Bild von sich zeichnen, sie muss erzählen, wie sie sich selbst sieht. Und diese Geschichte muss erst wieder entwickelt werden“, so verstehe ich das als Aufforderung, von der oftmals technokratischen, schlicht parteierhaltenden „Es woa scho immer so“-Mentalität, die in Teilen der SPÖ ja immer noch zu finden ist, abzurücken. Eine Mentalität, die es phasenweise besonders Neuen in der Partei so schwierig macht anzudocken. Dieses neue Narrativ braucht eine neue Methodik, Kreativität und einen Abschied von der (ich nenne es) „intellektuellen Müdigkeit“, die die SPÖ bisweilen so blockiert.
Dieses Buch verdient es, mehrmals gelesen zu werden. Und es auf Schreibtisch und Bücherregal herumzuschieben, war definitiv ein Fehler.
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Robert Misik: Christian Kern. Ein politisches Porträt. Residenz Verlag, Salzburg – Wien 2017. ISBN 9783701734115 | ISBN E-Book 9783701745470
Diese Rezension wurde bereits zuvor von Kathrin Quatember auf ihrem Blog FIREREDFRIEDERIKE.com veröffentlicht.
Foto: Kathrin Quatember