Hast du dich schon einmal aktiv gefragt, ob eine bestimmte Person ein Mann oder eine Frau ist? Wahrscheinlich selten. Das machen wir nämlich unterbewusst. Denn die geschlechtliche Zuordnung erfolgt in unserem Hirn gerade mal 244 Millisekunden, nachdem wir eine Person gesehen haben. Das passiert also sogar noch kurz vor der intuitiven Einschätzung, wie attraktiv du diese Person findest. Da bleibt gar nicht wirklich Zeit, um einen aktiven Gedanken darüber zu formulieren. Bewusst darüber nachdenken können wir also eigentlich nicht. Doch entspricht unsere Intuition immer der Wahrheit?
Wie kann man das Geschlecht einer Person identifizieren?
Tatsächlich reicht in den meisten Fällen ein Blick auf eine Person, um das biologische Geschlecht relativ zuverlässig einordnen zu können. Allerdings stimmt das bei Weitem nicht immer.
Ist sich zum Beispiel ein Arzt bei einem bewusstlosen Patienten* ohne Vorabinformation nicht sicher, wird er zunächst durch Beobachtung feststellen, welches Geschlechtsorgan die Person hat. Doch was, wenn das Genital einer Person nicht eindeutig zugeordnet werden kann? Die Wahrscheinlichkeit dafür liegt bei rund 0,2 Prozent. Das Phänomen nennt sich Intersexualität. Dass die Sache mit dem biologischen Geschlecht über das Genital hinausgehend noch weitaus komplexer ist, zeigt ein Blick ins Erbgut. Schon in der Schule lernen wir, dass Frauen XX- und Männer XY-Chromosomenpaare aufweisen. Doch was ist, wenn ich dir sage, dass es Personen gibt, die eine Variante XXY aufweisen? Jetzt könnte man natürlich behaupten, dass nur das Vorhandensein des Y-Chromosoms zählt. Denn darauf liegt ja das SRY-Gen, das die männliche Geschlechtsentwicklung einleitet. Wie jedes andere Gen kann aber auch dieses SRY-Gen durch eine strukturelle Chromosomenaberration, zum Beispiel eine Deletion, verlorengehen oder durch eine Mutation fehlerhaft exprimiert sein. Das kann auch bei einer Person mit üblichem XY-Chromosom vorkommen, so wie es auch im Genom aller Menschen gelegentlich zu Mutationen kommt. Man beschreibt dieses Phänomen als Swyer-Syndrom. Die betroffene Person hat dann trotz XY-Chromosomen ein weibliches Erscheinungsbild. Würdest du diese Person dann als Mann oder Frau bezeichnen? Man sieht: Sogar die Methode der genetischen Untersuchung stößt an ihre Grenzen. Was für unsere soziale Wirklichkeit gilt, ist auch biologisch betrachtet Realität: Unsere Welt ist nicht schwarz und weiß.
Doch zugegeben: Solche Fälle sind sehr selten. Im Vergleich dazu kommen Fälle, in denen sich Menschen nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren können, signifikant häufiger vor. Wie erklärt sich also, dass sich manche Menschen nicht mit ihrem angeborenen körperlichen Geschlecht identifizieren können oder wollen? Bestimmt fragst du dich jetzt: Gibt es denn überhaupt eine Möglichkeit, so etwas festzustellen? Und die Antwort darauf ist: Ja, die gibt es!
Mit Blick aufs Gehirn – Warum sich trans Personen in ihrem Körper unwohl fühlen
Die Gehirne von biologischen Männern und Frauen sind zwar größtenteils gleich, an ein paar wenigen Stellen ist eine Unterscheidung jedoch möglich. Eine solche Stelle ist zum Beispiel der Bettkern der Stria terminalis. Dieser ist bei biologischen Männern normalerweise größer als bei biologischen Frauen. Doch wie sieht das bei trans Personen aus? Tatsächlich gibt es diesbezüglich wissenschaftliche Beobachtungen, dass eben jener Hirnbereich bei Mann-zu-Frau transidenten Personen in seiner Größe mit dem Hirnbereich biologischer Frauen vergleichbar ist. Betrachtet man also einzig diesen Bereich im Gehirn, so würde man sie relativ eindeutig dem weiblichen Geschlecht zuordnen. Das Genital entspricht hierbei nicht jenem des Gehirnbereichs. Man kann auch sagen: Das Geschlecht entspricht nicht dem Gender. Wie viel man daraus interpretieren darf, steht zwar noch zu einem großen Teil offen und ist wissenschaftlich noch nicht gänzlich geklärt, was sich jedoch sagen lässt: Das eigene Geschlechtsidentitätsgefühl korreliert mit morphologischen Erscheinungen des Gehirns. Diese Beobachtung im Gehirn widerspricht Thesen, wonach ein Identitätsgefühl, bei dem sich Gender und biologisches Geschlecht voneinander unterscheiden, die Folge von Kindheitstraumata oder dergleichen seien. Transidentität ist in vielen Fällen naturwissenschaftlich messbar. Jenen Menschen, die das nicht wahrhaben wollen, sei an dieser Stelle gesagt: Transidentität ist keine Krankheit, sondern Ausdruck der vielfältigen Unterschiedlichkeit von uns Menschen. Und bevor jemand auf böse Ideen kommt, sei angemerkt: Die Größe des Bettkerns der Stria terminali im Gehirn eines Menschen ist weder psychologisch noch psychiatrisch therapierbar. Weder bei Trans-Personen noch bei cis-Personen.
Als Cis-Mann/Cis-Frau werden diejenigen bezeichnet, deren Geschlechtsidentität dem Geschlecht entspricht, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.
Mehr Infos dazu findest du hier!
Aber Achtung! Jetzt könnten – wiederum – Verrückte auf die Idee kommen, potentiellen trans Personen mittels MRT-Untersuchung auf die Größe dieser Hirnregionen zu untersuchen und basierend darauf versuchen, ihren Gender-Status anzuerkennen oder eben nicht. Das wäre nicht nur problematisch, sondern auch unwissenschaftlich. Unser Gehirn ist das mit Abstand komplexeste Organ des Menschen. Nicht selten lassen sich Situationen beobachten, die auf den ersten Blick unstimmig wirken, es aber nicht sind. Und noch viel wichtiger ist aber folgendes: Ist das für die Frage der Anerkennung einer Genderidentität überhaupt relevant? Es geht eben darum, nicht weitere fremdbestimmende Hürden für trans Personen zu schaffen, sondern vielmehr die Diversität zu akzeptieren, die unsere Gesellschaft ausmacht und diese Vielfältigkeit auch zu schätzen. Identität ist etwas Höchstpersönliches, das sich gar nicht fremdbestimmen lässt.
Auch die YouTuberin MaiLab behandelt dieses Thema in ihrem Video “Die Wissenschaft hinter Transgender” und weist auch sehr gut auf die Probleme hin, die der Hirnforschung derzeit noch Grenzen setzen.
INAH-3 – ein Bestimmungsort für sexuelle Präferenz?
Und noch was! Es gibt eine weitere Stelle, bei der sich ein Unterschied zwischen biologischen Männern und Frauen erkennen lässt. Und zwar an den interstitiellen Nuclei des anterioren Hypothalamus, kurz: INAH. Hier ist der Kern INAH-3 bei Männern in etwa doppelt so groß wie bei Frauen. Das trifft allerdings nur im Durchschnitt zu. Denn die Größe des Kerns unterscheidet sich – genauso wie die Körpergröße – von Person zu Person, vermutlich nach der Normalverteilung. Demnach gibt es auch statistische Ausreißer. Biologische Frauen, die einen sehr großen oder biologische Männer, die einen sehr kleinen solchen Kern aufweisen. Aber jetzt wird es wirklich spannend: Der britische Neurobiologe Simon LeVay fand in einigen Untersuchungen heraus, dass es Unterschiede zwischen den Gehirnen von homosexuellen und heterosexuellen Personen gibt. Tatsächlich nämlich korreliert die Größe des INAH-3 mit der sexuellen Orientierung. So fand LeVay heraus, dass der INAH-3 bei homosexuellen Männern – welche Schätzungen zufolge übrigens drei bis zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen – nur halb so groß ist wie bei heterosexuellen Männern, was wiederum der durchschnittlichen weiblichen Größe entspricht. Wie groß dieser Bereich ist, kann sich ein Mensch nicht aussuchen. Es ist einfach so. Homosexualität ist auch biologisch betrachtet vollkommen natürlich. Es ist ein Gesetz der statistischen Normalverteilung, dass ein gewisser Anteil der Bevölkerung sexuell auf Personen des gleichen biologischen Geschlechts steht und ein gewisser Anteil sexuell auf beide Geschlechter steht. Auch sexuelle Präferenzen sind nicht binär, sie entsprechen vielmehr einem Kontinuum, das sich zwischen der Präferenz für das eigene biologische und der Referenz für das andere biologische Geschlecht bewegt. Ähnliches beobachten wir übrigens auch in der Tierwelt. Zum Beispiel reiten acht Prozent der männlichen Dickhornschafe bevorzugt auf anderen Männchen auf. Und auch hier lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Größe ihres SDN und der sexuellen Präferenz feststellen. Man sieht also: Psychologische Ursachen oder ein Kindheitstrauma, wie sie gerne von manchen reaktionären Gruppen postuliert werden, lassen sich hier keine finden. Stattdessen sehen wir eine biologische Erklärung für tierisches sowie menschliches Verhalten.
Wie kann man das interpretieren?
Einen gesicherten Rückschluss auf genetische Ursachen kann man leider trotzdem noch nicht treffen. Denn ob diese morphologischen Unterschiede genetisch oder epigenetisch bedingt sind, ist schwer festzustellen. Die Neurobiologie ist noch eine recht junge Disziplin mit viel Forschungsbedarf. Für gesicherte Aussagen mangelt es also oft noch an der Quantität von Untersuchungen. Auch erweist sich ein Vorher-Nachher Bildvergleich des Gehirns als recht schwierig, da man von beobachteten Personen meistens keine Gehirnaufnahmen aus ihrem früheren Leben hat, wodurch man vergleichen könnte, ob bestimmte Größenvariationen schon immer so aussahen oder sich erst so entwickelten. Der gänzlich bestätigte Zusammenhang ist jedoch gar nicht all zu wichtig. Denn was wir schon jetzt mit Gewissheit sagen können, ist, dass dieser Blickwinkel eine ganz neue Sicht auf eine legitime biologische Diskussionsgrundlage fernab von „Mann ist Mann und Frau ist Frau“ eröffnet. Eine solch simple Trennung ist nach modernem Wissenschaftsstand unzulässig.
Die Neurobiologie bestätigt: Menschen suchen sich weder aus, mit welchem Geschlecht sie sich identifizieren oder ob sie sich überhaupt mit einem Geschlecht identifizieren, noch, welches Geschlecht sie begehren. Es gibt in unserer Welt schon allein naturwissenschaftlich betrachtet nicht nur ein entweder – oder, sondern eine große Vielfalt. Wir können das bei der genetischen Zuordnung feststellen, und auch darüber hinaus. Die Idee einer Nicht-Binärität ist demnach in unserer Natur inhärent. Sie strebt geradezu pausenlos nach Veränderung. Und das ist doch eigentlich etwas ziemlich Schönes, nicht?
Quellen: https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0304394018306141?via%3Dihub
Lehrbuch: „Neurowissenschaften“ (Mark F. Bear et all.)
https://bit.ly/3J4l9V5
Titelbild: “New Pride Flag”, designed by Julia Feliz