Anfang Juni stufte der Deutsche Bundestag in einer Resolution den Massenmord an rund 1,5 Millionen Armenier_innen im Jahr 1915 als Genozid ein und wies dabei auf die historische Verantwortung Deutschlands hin:
„Der Bundestag bedauert die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches, das als militärischer Hauptverbündeter des Osmanischen Reichs trotz eindeutiger Informationen auch von Seiten deutscher Diplomaten und Missionare über die organisierte Vertreibung und Vernichtung der Armenier nicht versucht hat, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu stoppen.“
Die Türkei hingegen bezeichnete die Resolution in einer ersten Reaktion als „lächerlich“ und weigert sich weiterhin, eine sachliche Diskussion darüber zu führen. Wenige Tage später folgte die Retourkutsche aus Ankara: Präsident Erdogan erinnerte an die deutsche Schuld am Holocaust und am Völkermord an den Herero und Nama in Namibia.
Der andere Völkermord
Das deutsche Parlament konnte sich bis heute nicht dazu durchringen, die Vorkommnisse in der ehemaligen Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ als Genozid zu bezeichnen. Dennoch steht fest: Der Völkermord in Namibia fand elf Jahre vor dem Völkermord in Armenien statt und war somit das erste derartige Verbrechen im 20. Jahrhundert.
Im Deutschen Reich setzte die Welle kolonialer Begeisterung erst spät ein und war von der Furcht getrieben, dass man bei der fortschreitenden „Aufteilung der Welt“ zu kurz kommen könnte. 1884 gelangten die ersten 580.000 Quadratkilometer in Südwestafrika unter offiziellem „Reichsschutz“.
Public Domain: Text auf der Hülle: ”Heidnische Hereros” // formale Bemerkung:
Repro Retuschen kleiner Schichtfehler // Photograph: Schutz; Heuberg, M. // Region: DSWA Namibia
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts kamen 16 Millionen Quadratkilometer afrikanischen Bodens und mehr als hundert Millionen Afrikaner_innen unter europäische Herrschaft. Willkürlich wurden Demarkationslinien festgelegt, die quer durch die Lebensräume der einheimischen Ethnien verliefen. Die Afrikaner_innen wurden schrittweise aus ihren Wohngebieten verdrängt und in Reservate gepfercht. Die christliche Mission beteiligte sich ebenfalls an diesem unduldsamen Kulturimperialismus.
Die Geschichte eines brutalen Herrentums
Schließlich wagte Stammesführer Samuel Maharero im Jahr 1904 den Aufstand gegen Knechtschaft und Unterdrückung. Die Deutschen zeigten sich zunächst empört, gehörte „die Widerspenstigkeit von Neger_innen“ doch so überhaupt nicht in ihr Weltbild. Daniel Kariko, ein weiterer hochrangiger Herero-Vertreter meinte dazu:
“Unsere Leute wurden erschossen und ermordet, unsere Frauen missbraucht, und die es taten, wurden nicht bestraft. Unsere Chiefs berieten sich und entschieden, dass Krieg nicht schlimmer sein könnte als das, was wir durchlitten.”
Die Herero versuchten daraufhin, ihr Land zu befreien und die Kolonist_innen von ihren Farmen zu vertreiben. Kaiser Wilhelm II. übertrug daraufhin Generalleutnant Lothar von Trotha den Oberbefehl, den Aufstand niederzuschlagen. Nachdem eine Großoffensive im August mit rund 4.000 deutschen Soldaten misslang, wurden die Herero in das Omaheke, ein wasserloses Sandfeld der Kalahari, getrieben.
Am 2. Oktober 1904 erteilte von Trotha schließlich einen „Vernichtungsbefehl“ gegen die Herero:
„Das Volk der Herero muss jedoch das Land verlassen. Wenn das Volk dies nicht tut, so werde ich es mit dem Groot Rohr (Geschütz) dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber, Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück oder lasse auch auf sie schießen. Dies sind meine Worte an das Volk der Herero. Der große General des mächtigen deutschen Kanzlers.“
Die Herero wurden immer weiter in die Wüste getrieben, während deutsche Soldaten systematisch die wenigen Wasserlöcher besetzten. Obwohl nicht alle Offiziere diese Vernichtungsstrategie befürworteten, blieb von Trotha unerbittlich.
Public Domain: P. 137 of “Genocide in German South-West Africa: The Colonial War of 1904-1908
and Its Aftermath”, by Jurgen Zimmerer, Joachim Zeller and E. J. Neather, Merlin Press (December 1, 2007)
Der Spiegel merkte dazu in einer Reportage an:
„Dass nicht alle Herero umkamen, lag daran, dass es zu viele Truppen gebunden hätte, sie vollständig aus dem ‚Schutzgebiet‘ herauszuhalten. Die deutschen Soldaten wurden zudem gebraucht, um die weiter südlich lebenden Nama – von den Deutschen abschätzig ‚Hottentotten‘ genannt – zu bekämpfen.“
Im Dezember 1904 befahl Kaiser Wilhelm II. schließlich, “Konzentrationslager für die einstweilige Unterbringung und Unterhaltung der Reste des Herero-Volkes” einzurichten. Ein halbes Jahr später waren rund 9.000 Herero inhaftiert. Frauen wurden vor Eselskarren gespannt und mussten bis zur völligen Entkräftung Steine transportieren. Desolate hygienische Zustände, Krankheiten und mangelhafte Ernährung waren allgegenwärtig.
Bis 1907 wurden insgesamt 15.000 Herero und 2.000 Nama inhaftiert, 7.682 davon starben in den Konzentrationslagern.
Wirtschaftliche Überlegungen verhinderten schließlich die völlige Vernichtung der Herero und Nama. Denn für das Deutsche Reich waren die Eingeborenen für Ackerbau und Viehzucht unersetzlich. Eine Wiedergutmachung, sofern man überhaupt davon sprechen kann, steht bis heute aus.
Titelfoto: “Der Wahre Jacob”, Nr. 483.