Prolepse nennt man in der Literaturanalyse, wenn spätere Ereignisse vorweggenommen werden oder wenn etwas vorhergesagt wird. Etwa wenn in der Fernsehserie Lost nicht nur die Vergangenheit der Hauptfiguren in Rückblenden, sondern überraschenderweise plötzlich auch deren Zukunft in Vorausblenden erzählt wird. Demgegenüber stehen in der Realität vage Vermutungen, die man durchaus mit felsenfester Überzeugung aussprechen kann. Beispielsweise habe ich gesagt und daran geglaubt, England würde niemals für den Brexit stimmen und die USA Trump nicht zum Präsidenten wählen. An dieser Stelle möchte ich es erneut mit einer Weissagung versuchen, die sich auf das Kinojahr 2017 bezieht: 2017 wird das Jahr, in dem Cyberpunk seine längst überfällige Auferstehung erlebt! Die Vorzeichen sind günstig.
Was Cyberpunk genau ist, möchte ich nur mit einigen Stichworten umreißen. Cyberpunk lässt sich der Science Fiction unterordnen, entfaltet sich jedoch im Gegensatz zur Utopie in düsteren, pessimistischen (kurz: dystopischen) Zukunftsvisionen. Das ‚Punk’ im Titel weist auf einen Autoritätskonflikt der Figuren mit dem System hin und das ‚Cyber’ bezieht sich auf die Bedeutung der Technologie in diesen Zukunftsvisionen. Nicht selten geht es um die Verschmelzung von Mensch und Maschine oder Menschen und Computersystemen. Prominente Beispiele hierfür wären etwa Total Recall oder Matrix.
Während der Cyberpunk in Videospielen (Deus Ex oder dem noch nicht erschienenen Cyberpunk 2077) oder im Manga-, Comic- und Anime-Bereich häufig thematisiert wird, scheint das Thema in Hollywood fast schon totgeschwiegen zu werden. Denn abseits von ein paar gelungenen Nischenproduktionen und den umstrittenen Remakes zu Total Recall und Robocop kam aus dieser Sparte seit dem Ende der Matrix-Trilogie nichts Nennenswertes mehr. Ich hege jedoch die begründete Hoffnung, dass sich das im Jahr 2017 ändert. Das ausgeklungene Jahr 2016 gibt uns bereits einen ersten Film mit auf den Weg, den man mit ein wenig Phantasie dem Genre zuordnen könnte. In der Videospielverfilmung Assassin’s Creed mit Michael Fassbender geht es immerhin um eine Rebellion gegen eine übermächtige Gruppierung und die Verschmelzung von Mensch und Maschine, durch die es möglich ist, das Leben unserer Vorfahren nachzuerleben.
Der Assassin’s Creed-Film ist keinesfalls eine Glanzleistung und dennoch gibt er Hoffnung, dass Cyberpunk im Kinojahr 2017 eine Auferstehung erleben könnte. Gleich zwei große Cyberpunk-Blockbuster sind für dieses Jahr angekündigt!
Harrison Ford schlüpft erneut in die Haut von Rick Deckard aus Blade Runner (1982), die als seine dritte große Kultrolle neben Han Solo und Indiana Jones gesehen werden kann. An seiner Seite darf sich Ryan Gosling durch die Kulissen der Blade Runner-Welt kämpfen, die als Meilenstein des Genres gilt. Regie führt nicht mehr Ridley Scott, der derzeit an seiner Alien-Fortsetzung Alien Covenant bastelt. Er ist an Blade Runner 2049 aber immerhin noch als Produzent beteiligt. Den Regiestuhl übernimmt sein fähiger Kollege Denis Villeneuve, der mit dem Psychothriller Prisoners, dem (so wie ich es sehe) Antikriegsdrama Sicario und dem ungewöhnlichen Sci Fi-Meisterwerk Arrival die Erwartungen für die Blade Runner Fortsetzung ziemlich hoch legt. Jóhann Jóhannsson löst Vangelis beim Soundtrack ab und hat damit ein mindestens genauso großes Erbe zu tragen wie Villeneuve bei der Regie. Manche Sachen sollte man einfach in Würde ruhen lassen. Der Kultfilm Blade Runner gehört meines Erachtens definitiv dazu. Dennoch gehört die Fortsetzung zu meinen großen Hoffnungen und Erwartungen des Kinojahres 2017!
Am neugierigsten bin ich allerdings auf die Realverfilmung von Ghost in the Shell mit Scarlett Johansson. Ghost in the Shell zählt wohl ebenso zu den Meilensteinen des Cyberpunks. Ghost in the Shell ist ein Manga von Masamune Shirow aus dem Jahre 1989, der 1995 von Mamoru Oshii bereits als Anime umgesetzt wurde. Außerdem gibt es eine Anime-Serie, die sich um die bekannten Charaktere dreht. Der Trailer für die Hollywood-Umsetzung ist vielversprechend und zeigt außerdem einige Szenen, die detailliert aus dem Anime übernommen wurden und so Hoffnung auf eine akkurate Umsetzung geben. Der Anime zählt meines Erachtens zu den sehenswertesten japanischen Filmen.
Ich persönlich finde Cyberpunk eines der spannendsten Genres, die es in Literatur, Film und Spiel gibt. Das Genre spielt gleichermaßen mit der Faszination und der Angst, die technischer Fortschritt auslöst und drückt sich dabei vor allem ästhetisch auf so mannigfaltige Arten aus, dass ein Eintauchen in diese Welten immer und immer wieder neue Erfahrungen, neue Erlebnisse und neue Erkenntnisse bietet. Cyberpunk kann sich cool wie in Matrix, düster wie in Blade Runner, eklig wie in David Cronebergs eXistenZ oder Videodrome, steril wie in Minority Report oder absurd wie in Johnny Mnemonic oder The Zero Theorem entfalten. Fast immer fasziniert und fesselt aber der Schauer zwischen Fiktion und Realität und der Kontrast zwischen Lebensverbesserung und Gefahr, mit dem dier technische Fortschritt einhergeht.
Wir leben in einer Zeit von Virtual Reality-Brillen, Drohnenkriegsführung, äußerst handlungsfähigen Prothesen sowie Smartphones und Computern, die sich mit uns unterhalten können. Cyberpunk ist aktueller denn je. Es wird Zeit, dass auch Hollywood diese Thematik wieder aufgreift. 2017 bekommen zwei der wichtigsten Genre-Vertreter neue Ableger. Zwar sind es nur zwei Filme, aber verglichen zur gähnenden Leere der letzten Jahre kann man geradezu von einer Welle des Cyberpunks sprechen. Das finde ich schön und ich hoffe, es kommt noch mehr, denn das Genre bietet auch genügend Spielraum für Gesellschaftskritik und philosophische Fragen.
Ghost in the Shell läuft bereits am 30. März 2017 in unseren Kinos an. Blade Runner 2049 wird wohl irgendwann im Herbst folgen.
Neben der Assassin’s Creed-Verfilmung hatte das Kinojahr 2016 übrigens viele weitere Höhen und Tiefen zu bieten. Einen Rückblick findet ihr hier: Das Kinojahr 2016: Höhen und Tiefen!
Das Titelbild dieses Beitrags stammt von mir.