Politik

Was ist ein mehrheitsförderndes Wahlrecht?

posted by Daniel Winter 12. Januar 2017 0 comments

Mit einer Grundsatzrede stellte Bundeskanzler Christian Kern (SPÖ) am 11. Jänner 2017 in der Welser Messehalle vor mehr als 1500 Menschen seinen Plan A für Österreich vor, welchem im Wesentlichen zwei Visionen zugrunde liegen: Soziale Gerechtigkeit und Modernisierung. “Eine Politik, die unternehmerisch denkt und einen handlungsfähigen Staat, der dafür sorgt, dass möglichst alle etwas davon haben und niemand zurückgelassen wird”, verlangt Christian Kern im Vorwort zu seinem 145 Seiten starken Programm. Er meint damit nicht einen neoliberalen schlanken bzw. eigentlich unterernährten Nachtwächterstaat, sondern einen Staat, der seine Aufgaben effizient erledigt, ohne sich seiner Aufgaben zu entledigen. Zwei Stunden etwa dauerte die Rede, bei der die wohl überraschendste Forderung erst am Ende kam: Die Forderung nach einem mehreitsfördernden Wahlrecht. Doch was ist das eigentlich?

Zunächst zum Status quo…

Als Alexander Van der Bellen zu Beginn des langen Präsidentschaftswahlkampfes angedeutet hatte, dass er mitunter nicht garantieren könne, einem Spitzenkandidaten Heinz Christian Strache den Auftrag zur Regierungsbildung zu erteilen, sollte die FPÖ mit relativer Mehrheit die Nationalratswahl gewinnen, war die Entrüstung unter vielen Österreicher_innen groß. Darf er denn das, ist das nicht undemokratisch, lauteten die Fragen. Österreich ist eine repräsentative Demokratie mit präsidialem Einschlag. Während der Nationalrat (von der 4 Prozent-Hürde abgesehen) den exakten Wähler_innenwillen abbildet, kann die österreichische Bevölkerung in der Regel indirekt beeinflussen, von wem sie regiert wird. Bei den Nationalratswahlen wird die wichtigste Kammer im Parlament (Gesetzgebung) gewählt, nicht aber die Regierung (Exekutive). Den Auftrag zur Regierungsbildung erteilt der_die Bundespräsident_in. Da eine funktionierende Regierung jedoch auf eine parlamentarische Mehrheit angewiesen ist, um ihre Aufgaben gut erfüllen zu können, bilden sich Koalitionen. Diese können dann dazu führen, dass wie 1999 passiert,  plötzlich jene Partei (ÖVP), die am drittmeisten Stimmen bekommen hat, den Bundeskanzler (Wolfgang Schüssel) stellt, während die stimmenstärkste Partei (SPÖ) in der Opposition landet.”Und so werden aus Wahlverlierern Verhandlungssieger und umgekehrt” (Plan A, S. 137). Ebenfalls ist es möglich, dass eine Koalition zwar über eine parlamentarische Mehrheit verfügt, das Volk aber mehrheitlich gegen eine solche Regierungszusammensetzung wäre, wenn es darüber abstimmen könnte.

Der Vorteil einer repräsentativen Demokratie liegt darin, dass der Wähler_innenwille im Parlament exakt abgebildet wird. Der Nachteil besteht darin, dass das Volk im Falle relativer Mehrheiten keinen Einfluss darauf hat, von wem es regiert wird. Dazu kommt, dass in Österreich die Mehrheit aller Gesetze von den Ministerien ausgearbeitet werden. In der Praxis besteht die Hauptaufgabe des Parlaments – anders als etwa in Deutschland – dann darin, über diesen Vorschlag (Regierungsvorlage) abzustimmen.

Mehrheitsförderndes Wahlrecht: Eine typisch österreichische Lösung?

Mehrheitswahlsysteme, wie wir sie aus dem Vereinigten Königreich oder den USA kennen, funktionieren genau umgekehrt. In diesem System geht es nicht darum, den Wähler_innenwillen exakt darzustellen, sondern darum, dass es klare Mehrheiten gibt. Wahlen sind Richtungsentscheidungen. In diesem Fall kann es sein, dass sich die Politik in einem Land vollkommen ändert, obwohl die stärkste Partei nur wenige Prozentpunkte vor der zweitstärksten Partei liegt. Der Vorteil dieses Systems liegt darin, dass das Volk einen sehr starken Einfluss darauf hat, von wem es regiert wird. Es ist fast ein Naturgesetz, dass die stärkste Partei über eine absolute Parlamentsmehrheit verfügt und somit auch nicht auf eine Koalition und alle damit verbundenen Kompromisse angewiesen ist. In der Regierung kann die Partei an dem gemessen werden, was sie im Wahlkampf zuvor versprochen hat. Ein großer Nachteil dieses Systems ist, dass sich langfristig mit hoher Wahrscheinlichkeit zwei Parteien durchsetzen und die anderen in der realpolitischen Bedeutungslosigkeit verschwinden. Es besteht die Gefahr, dass aus Pluralität eine Polarisierung wird. Das Mehrheitswahlsystem ist gewissermaßen auch der systemische Gegenentwurf zur großen Koalition.

Nun hat Bundeskanzler Christian Kern ein mehrheitsförderndes Wahlrecht vorgeschlagen, bei dem zwar repräsentativ gewählt wird, aber die an relativen Stimmen stärkste Partei einen Mandatsbonus im Nationalrat  bekommt. Darüber hinaus fordert Kern: Die stimmenstärkste Partei soll den Auftrag zur Regierungsbildung erhalten und den_die Bundeskanzler_in stellen.

1. Stärkste Partei soll Kanzler_in stellen

Diese Forderung hat mit dem Wahlsystem an sich nichts zu tun. Sie ließe sich umsetzen, ohne dass man auch nur irgendetwas daran, wie der Wähler_innen im Parlament abgebildet wird, ändern müsste. Es würde aber bedeuten, dass die Partei, welche relativ betrachtet am meisten Stimmen hat(das können eben auch nur 30 Prozent oder weniger Stimmen sein), bei der Regierungsbildung nicht übergangen werden darf. Ist diese Partei nicht in der Lage, eine Koalition zu schließen, so wäre sie zu eine Minderheitsregierung gezwungen, bei der das freie Spiel der Kräfte im Parlament zählt. Ein mögliches Szenario, das sowohl Vorteile, als auch Gefahren in sich birgt. Einerseits würde es die parlamentarische Debatte aufwerten, andererseits kann es auch für instabile Verhältnisse sorgen.

2. Mandatsbonus für die stärkste Partei

Darum sieht der Vorschlag von Christian Kern ebenfalls vor, dass die an relativen Stimmen stärkste Partei einen zusätzlichen Mandatsbonus erhält. Im Gegensatz zum Mehrheitswahlsystem würde sich auch bei einem solchen mehrheitsfördernen Wahlsystem nichts am prinzipiellen Wahlmodus ändern. Es wäre nicht die Einführung eines The-Winner-Takes-All-Prinzips, sondern schlicht eine Bevorzugung der stimmenstärksten Partei, nachdem die Wahl bereits geschlagen ist. Formal handelt es sich dabei um eine Schlechterstellung aller anderen Parteien im Nationalrat, realpolitisch könnte diese Maßnahme jedoch sogar zu einer Aufwertung des Einflusses kleiner Parteien darstellen. Ob das so ist, hängt davon ab, wie ein solches mehrheitsförderndes Wahlsystem genau gestaltet ist. An dieser Stelle hat der Bundeskanzler in seiner Rede klargemacht, dass es hierzu eine breite Diskussion geben müsse.

Die Idee eines mehrheitsfördernden Wahlrechts ist in Österreich nicht neu. Bereits im Jahr 1971 gaben die Politikwissenschaftler Heinrich Neisser und Anton Pelinka ein Buch mit dem Titel Für ein mehrheitsförderndes Wahlrecht in Österreich : 8 Plädoyers heraus, in dem die Idee eines Wahlrechts vorgestellt wird, “das sich am Demokratiepostulat orientiert [… und] mehr als nur die Legitimation des Parlaments zum Ziel haben [muß]; es muß  auch auf die Legitimation der Regierung abgestellt sein” (Seite 100). Damals fanden die Ideen, die in diesem Buch skizziert wurden, allerdings keine große Beachtung. Mit Christian Kern sind sie nun 46 Jahre später in der öffentlichen politischen Debatte angelangt.

3. Warum der Einfluss kleiner Parteien größer werden könnte

Nun gibt es verschiedenste Varianten, wie ein mehrheitsförderndes Wahlrecht aussehen könnte. Unter der Prämisse aber, dass die an relativen Stimmen stärkste Partei selbst durch den zusätzlichen Bonusmechanismus in jedem Fall unter 50 Prozent der Mandate bleibt, würde die formale Schwächung kleinerer Parteien ihren Einfluss erhöhen. Das klingt absurd, macht aber Sinn. Selbst die kleinste Partei im Parlament könnte zum Zünglein an der Waage werden. Die Folge wären dynamischere Mehrheiten, wechselnde Koalitionen im Hinblick auf einzelne Gesetze und ein lebendigeres Parlament.

Ein solches System hätte auch Nachteile. Im manchen Fällen könnte es passieren, dass von mehreren Parteien Gesetze im Parlament  beschlossen werden, die gemeinsam kein Mehrheit bei den Nationalratswahlen erhalten haben. Gleichzeitig aber hätte die Opposition beim mehrheitsfördernden Wahlsystem im Gegensatz zum Mehrheitswahlrecht nach britischem Beispiel nach wie vor die Möglichkeit, Pläne der Kanzlerpartei zu vetoieren. Obwohl die realtiv stärkste Partei einen Bonus bekommt, wäre sie bei jedem Gesetz auf die Zusammenarbeit mit den anderen Parteien angewiesen. Je nach Kräfteverhältnissen braucht es mindestens die Zustimmung von einer oder mehrer der anderen Parteien. Das bedeutet einerseits, dass die relativ stärkste Partei auch weiterhin keine Alleingänge machen kann und darüber hinaus folgendes: Wechselnde Mehrheiten sind möglich, ohne dass die politische Stabilität darunter leiden muss.

Ein mehrheitsförderndes Wahlrecht wäre gewissermaßen eine Melange aus den Vorteilen des relativen Wahlsystems und des Mehrheitswahlsystems. Ein bisschen was von beidem und auf diese Weise eine durch und durch österreichisch. Gleichzeitig würde eine solche Wahlreform vermutlich das Ende der österreichischsten Regierungsform überhaupt bedeuten: Das Ende der großen Koalition, wie wir sie kennen. In der politikwissenschaftlichen Literatur wird die österreichische Realpolitik oft als Konsens- oder Verhandlungsdemokratie bezeichnet. Damit ist eine politische Praxis gemeint, bei der es nicht um die Konkurrenz von Interessen, sondern um einen Ausgleich der Interessen geht. Die Tradition der Zweiten Republik, auch von der Sozialpartnerschaft geprägt, ist es, den Kompromiss zu finden. Nicht, sich durchzusetzen, sondern alle ein bisserl gewinnen lassen. Die große Koalition stand in Österreich stets als Sinnbild für diese Praxis. In den vergangenen Jahren erleben wir, dass die ÖVP und die SPÖ ideologisch zunehmend auseinanderdriften. Das ist an sich nicht schlimm, macht aber den politischen Kompromiss teurer. Die politischen Ergebnisse lassen dann beide Parteien wie Verlierer bzw. Umfaller aussehen. Zu sehr weichen sie von dem ab, was in den Parteiprogrammen steht und im Wahlkampf versprochen wurde. Dazu kommt, dass mit dem Niedergang der Großparteien auch die politische Praxis, den politischen Kompromiss zum Ziel zu machen, in Gefahr gerät. Mit einem mehrheitsfördernden Wahlrecht könnte man genau diese Praxis aufrechterhalten; auf eine Weise, die alle Parteien im Parlament einbindet. Eine typisch österreichische Lösung also, bei der alle ein bisserl gewinnen.

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