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Atomic Blonde – Charlize Theron setzt Genre-Maßstäbe

posted by Johannes Mayrhofer 2. September 2017 0 comments

 

Man muss nicht unbedingt an große Verschwörungstheorien glauben, um sich für Geschichten rund um Spionage, Agentinnen und Agenten und Geheimdienste zu interessieren. Der anhaltende Hype um den britischen Agenten James Bond bestätigt das. Diese tödliche Parallelwelt, das Spiel im Schatten, das tatsächlich stattfindet oder auch nicht, fasziniert uns. Es ist eine Welt, die sich über unsere legt und die wir nicht sehen. Im Kino nehmen diese Geschichten ganz unterschiedliche Formen an. Sie können sich in Dramen, Komödien oder natürlich Actionthrillern manifestieren. In letzteren ist der Agent meist stilsicher gekleidet, trinkt obligatorisch Alkohol, liefert sich heiße Verfolgungsjagden und Schießereien, schlägert sich mit Bösen und bekommt die schöne Frau. In David Leitchs neuem Actionthriller Atomic Blonde ist das auch genauso. Nur dass der Agent eine Agentin ist und diese ihren männlichen Kollegen Jason Bourne, James Bond oder Ethan Hunt mal so richtig zeigt, wie man Nägel mit Köpfen einschlägt.

Halten wir kurz inne, um einen Blick auf das bisherige Œuvre des Regisseurs David Leitch zu werfen. Der Mann hat in der einen oder anderen Form (Stuntman, Stunt Coordinator, Second Unit Director …) an nahezu jedem nennenswerten und weniger nennenswerten Film mitgewirkt. Dazu zählen die unterschiedlichsten Filme wie Fight Club, Blade, Underworld 2, V wie Vendetta, Matrix Revolutions, Mr. Und Mrs. Smith, 300, Conan (Remake), The Bourne Ultimatum, Tron: Legacy aber auch Komödien wie Anchorman 2. Mit all dem angesammelten Wissen über Action und Stunts hat er 2014 neben Chad Stahelski als Co-Regisseur und Produzent den Actionstreifen John Wick mit Keanu Reeves gedreht. John Wick wurde wegen der nicht vorhandenen Story kritisiert und den genialen Actionszenen gelobt. Manche behaupten sogar, John Wick wäre die westliche Antwort auf den asiatischen Action-Meilenstein The Raid. Mit Action kann David Leitch also erwiesenermaßen umgehen und davon profitiert nun die Graphic Novel-Umsetzung Atomic Blonde ungemein. Wenn es um furiose Action geht, wird dieses Jahr wohl nichts Besseres mehr nachkommen. Wenn es um Action geht, spielt die MI6-Agentin  Lorraine Broughton (Charlize Theron) aus Atomic Blonde aber auch allgemein in der obersten Liga.

Atomic Blonde ist eine Umsetzung der Graphic Novel The Coldest City von Anthony Johnston und Sam Hart, die sich aber einige Freiheiten im Vergleich zur Vorlage erlaubt. Das könnte auch der Grund für die Namensänderung sein. Die Handlung setzt 1989 in Berlin kurz vorm Mauerfall ein. Die Stimmung ist angespannt und im Untergrund herrscht ein Krieg der Geheimdienste. KGB, MI6, CIA, der französische Nachrichtendienst, die Stasi: Sie alle betrügen und hintergehen sich, forschen sich aus und gelegentlich fällt ein Spion dem tödlichen Spiel zum Opfer. Agentin Lorraine Broughton wird von London nach Berlin geschickt, um einen Mikrofilm mit einer Liste voller Agentennamen sicherzustellen. Besonders brisant ist die Liste, weil sie auch einige Doppelagenten enttarnen könnte. Ein Wettlauf um diese Liste beginnt. Lorraines Kontaktmann in Berlin heißt David Percival (James McAvoy), der sein eigenes Spiel auf beiden Seiten der Mauer zu spielen scheint. Er ist jedenfalls einer der wenigen, die scheinbar problemlos zwischen Ost und West hin- und her wechseln können und damit ein wertvoller Verbündeter für Lorraine. Wer ist die Dame in der Lederjacke (Sofia Boutella), die Lorraine immer zu verfolgen scheint? Als aufgedeckt wird, dass der Stasi-Überläufer Spyglass (Eddie Marsan) die gesamte Liste auswendig im Kopf hat, wird das Spiel kompliziert und er zum weiteren Ziel.

Jedenfalls wird die Handlung sehr viel komplizierter als noch in John Wick, wo es eigentlich nur um einen Rachefeldzug wegen eines toten Hundes ging. Die komplexere Handlung tut dem Film äußerst gut und gegen Ende hin verlieren wir als Publikum kurzfristig sogar den Überblick, wer gerade wen und wieso hintergeht. Die wirre Handlung könnte man als Kritikpunkt sehen, wobei sie für uns Zusehende anschaulich verdeutlicht, wie undurchschaubar und gefährlich diese Branche ist (oder zumindest in der Geschichte dargestellt wird). Am Ende wird alles aufgeklärt und meines Erachtens tut das Mehr an Handlung dem Film und dem Action-Genre durchaus gut. Während mich das Gemetzel bei John Wick irgendwann fadisiert hat, weil es doch einfach nur zum Selbstzweck stattfand, kann man mit Lorraine mitfiebern. Wenn sie die bösen Jungs im Treppenhaus nicht überwältigt, kann sie Spyglass nicht in den Westen retten.

Die Action ist in Atomic Blonde wie auch schon bei John Wick bei all ihrer Irrealität dennoch deutlich glaubwürdiger als etwa in Actionfilmen wie Fast and Furious. Ja, es ist unrealistisch, dass ein Mensch so viel einstecken kann, völlig unabhängig, ob ein Mann oder eine Frau diese Prügel kassiert. Dafür ist die Inszenierung in Atomic Blonde fein säuberlich choreografiert und auf einem Niveau, das in der obersten Liga mitspielt. Die Bewegungen und Manöver sind realistisch und was noch wichtiger ist: Das Geschehen ist so gefilmt, dass es für uns Zuschauende immer nachvollziehbar bleibt. Zu jedem Zeitpunkt wissen wir, wer gerade was macht und was in der Szene passiert. Hier hebt sich die Action vom oftmals verwackelten, hektischen Gefuchtel anderer Genrefilme ab und diese präzise Inszenierung ist es, die Atomic Blonde so sehenswert macht.

Der fulminante Höhepunkt des Films ist eine Actionszene, in welcher Lorraine in einem Treppenhaus mit mehreren Angreifern über zwei Stockwerke hinweg kämpft, danach in einem Auto flieht und während dieser Verfolgungsjagd noch diverse Crashs verursacht.

Die fast zehnminütige Szene ist dabei als One-Shot inszeniert (tatsächlich sind es aber 40 unsichtbare Schnitte) und raubt nicht nur Heldin Lorraine den Atem, sondern auch uns Publikum. Diese Szene gehört zweifellos zu den besten Actionszenen, die im Westen je gedreht wurden und kann sich durchaus mit den bereits genannten asiatischen Meilensteinen The Raid, The Raid 2 oder auch Ong Bak messen.

Darüber hinaus gelingt es dem Film schön, wenn auch etwas überstilisiert, die Atmosphäre der ausgehenden Achtzigerjahre, oder das, was im kulturellen Gedächtnis als solche hängen geblieben ist, einzufangen. Da schallen 99 Luftballons aus den Boxen, Peter Schilling schickt den Major Tom und Falco den Kommissar (allerdings in einer Coverversion). Die stilsichere Introsequenz wird von Bowies genialem Cat People (Putting out the Fire) untermalt, das auch schon in Tarantinos Inglourious Basterds die beeindruckende Kamerafahrt im Kino begleitete. Die Mode ist irgendwo zwischen äußerst stilsicher, Punk und Leder und richtig abgefuckt. Die Autos haben noch keine Computer und das Geheimdienstequipment besteht aus großen Kisten mit Röhrenbildschirmen und runden Knöpfen. Ich als Kind der ausgehenden Achtziger bin zu jung, um noch tatsächliche Erinnerungen an dieses Jahrzehnt zu haben, aber der Punk, das Heruntergekommene, die Mode, die Neonfarben, Graffitis und der Soundtrack von Atomic Blonde vermitteln eine Stimmung, die mir verträumt gestattet, von dieser Zeit und ihrer Popkultur zu schwärmen.

Atomic Blonde bricht aus der üblichen Erzählstruktur aus. Es läuft nicht auf den großen Showdown gegen einen bösen Antagonisten hin, denn dafür ist das Spiel zu undurchsichtig, die Seiten zu unklar und die Positionen zu wirr. Agentin Lorraine ist eine der taffsten Figuren, die es je in Mainstreamfilmen gab, muss aber auch ordentlich einstecken. Charlize Theron, die schon in Mad Max: Fury Road eindrucksvoll bewiesen hat, dass sie für progressive Action zu haben ist, wird in Atomic Blonde nicht einfach nur ein hübscher John Wick mit Brüsten. Sie ist ein abgebrühter Charakter, der sich in seinem Feld durchzusetzen vermag. Ihr geschundenes Gesicht zu Beginn des Films zeigt schnell, dass es in Atomic Blonde – auch wenn es der Trailer vermuten lässt – nicht um Sex Sells geht. Lorraine ist eine starke Frau, die stilsicher und selbstbewusst durch den Film schreitet. Die Sexszene wird nicht zum provokativen Selbstzweck (auch wenn sie zur besseren Vermarktung im Trailer dankenswert herangezogen wird), sondern deutet lediglich eine behutsamere, verletzliche Seite des Charakters an. Alles in ihrem Leben ist flüchtig. Begegnungen mit Feinden, Begegnungen mit Freunden, Begegnungen im Bett – und ob sie mit Freund oder Feind in selbigem liegt, ist nur ein weitere Unsicherheit in diesem gefährlichen Spiel um die Vorherrschaft in Berlin.

Wodka, Zigaretten, Punk, Graffiti, Neon, Achtziger Songs, abgebrühte Haudeginnen und Haudegen und unter ihnen eine Charlize Theron, die wieder einmal dem gesamten Genre zeigt, wie Action in diesem Jahrzehnt aussehen kann und wie vielseitig sie als Schauspielerin ist. Neben ihr ein James McAvoy, der in der Rolle des eingesessenen und abgebrühten Agenten in Berlin ebenfalls vollends überzeugt (gute schauspielerische Performances sind in einem Action-Thriller auch nichts Alltägliches) und eine undurchsichtige Story um Geheimdienste und ihre finsteren Machenschaften. Das Entscheidende in Atomic Blonde ist nicht, dass diesmal eine Frau die Heroine ist, das sollte 2017 eigentlich kein Thema mehr sein. Atomic Blonde ist großartig, weil die Action absolutes Referenzmaterial ist, die Schauspielerinnen und Schauspieler ihre Rollen mit Hingabe überzeugend verkörpern und selbst die Geschichte für dieses Genre halbwegs ausgearbeitet ist. Wer diesen Film als tumben Softporno abtut, weil er eine kurze homosexuelle Sexszene enthält, hat weder vom Genre noch von Film im Allgemeinen sonderlich viel verstanden. Man sollte Atomic Blonde abseits von jeglicher Geschlechter-, Feminismus- oder Sexismus-Debatte betrachten, denn nur weil das, was normalerweise ein Tom Cruise oder ein Daniel Craig tut, nun die fantastische Charlize Theron in besserer Ausführung macht, wird der Film noch nicht zum feministischen Vorzeigewerk. Andererseits wird er auch nicht automatisch zur sexistischen Männerfantasie, weil Charlize Theron eine attraktive Frau ist. Atomic Blonde ist ein knallharter Actionthriller, der handwerklich äußerst überzeugend gemacht wurde. Das ist in einer Zeit, in der die meisten Actionfilme von computergenerierten Ungetümen, Superheldinnen und Helden und Autorobotern handeln, äußerst erfrischend und viel wert und es wurde Zeit, dass sich Hollywood an die Brillanz asiatischer Werke herantastet.

Atomic Blonde löscht Feuer mit Benzin, wie es schon der Titelsong von David Bowie vorhersagt. Wer Action mag, muss in diesen Film. Hoffentlich kommt eine Fortsetzung. Oder zwei. Oder fünf. Solange sie auf diesem Niveau bleiben.

 

Atomic Blonde
Regie: David Leitch
Drehbuch: Kurt Johnstad, Antony Johnston (Autor von der Vorlage The Coldest City)
Soundtrack: Tyler Bates
Cast: Charlize Theron, James McAvoy, Sofia Boutella, John Goodman, Eddie Marsan, Toby Jones, Bill Skarsgard, Til Schweiger
Laufzeit: 115 Minuten
FSK: 16
Kinostart: 24.08.17

Die Bilder stammen von der offiziellen Homepage des Films.

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