Politik

“Die Zeit, in der die Europäische Union eine reine Wirtschaftsunion war, ist vorbei”

posted by Daniel Winter 24. August 2017 0 comments

Die Nationalratswahlen rücken näher. Am 15. Oktober 2017 ist es so weit. Auch wenn die jüngste Meinungsumfrage (Hayek, n=700) anzeigt, dass der momentane Abstand zwischen ÖVP und SPÖ wieder schmilzt, befindet sich die SPÖ in der Rolle des “Jägers”, seitdem Sebastian Kurz die Volkspartei übernommen hat. Warum Bundeskanzler Christian Kern dennoch überzeugt ist, dass die SPÖ am Wahltag von den meisten Menschen das Vertrauen erhalten wird, erklärt er in diesem Interview.

 

Während die ÖVP seit dem Wechsel ihrer Parteifarbe in Umfragen konstant voran liegt, war der Beginn des SPÖ-Wahlkampfes durchaus von Turbulenzen geprägt? War der Slogan die falsche Entscheidung? Hätte man sich bereits eher von Tal Silberstein trennen sollen?

Christian Kern: Wenn wir Regie führen hätten können, dann wäre es ein anderes Stück geworden. Ganz klar, dass man sich sowas nicht wünscht. Im Wahlkampf geht es aber nicht um Plakate und flotte Sprüche. Es geht auch nicht um Tal Silberstein und seine privaten Geschäfte, die wir bereits Anfang des Jahres überprüfen hatten lassen. Damals hat es keine ausreichenden Anhaltspunkte gegeben. Heute sind wir mit neuen Vorwürfen konfrontiert und die Konsequenz ist, dass wir die Zusammenarbeit mit Tal Silberstein und seinem Team beendet haben. Wir können den Fokus daher auf das legen, was wirklich wichtig ist: Es geht um unser Land und seine Menschen. Es ist Zeit, dass alle Österreicherinnen und Österreicher davon profitieren, in einem der reichsten Länder der Welt zu leben. Denn alle haben das Recht auf ein gutes Leben. Genau das bringen wir auch mit unserem Slogan „Holen Sie sich, was Ihnen zusteht“ auf den Punkt. Wir stehen für jene Menschen ein, die endlich bekommen sollen, was ihnen zusteht – und nicht für die, die Millionen erben.

Wie schätzen Sie nun die Chancen für ein erfolgreiches Abschneiden bei den kommenden Nationalratswahlen ein?

Christian Kern: Ich bin überzeugt, dass wir gute Chancen haben, am 15. Oktober als Erste durchs Ziel zu gehen. Und ich weiß, dass wir das nur gemeinsam erreichen können, Seite an Seite, Schulter an Schulter. Ich habe bei meinen Besuchen in den Bundesländern viele hochmotivierte Menschen getroffen. Daraus beziehe ich enorm viel Kraft und Zuversicht. Und wir haben auch die richtigen Konzepte für Österreich. Wir haben in den letzten Monaten zum Beispiel mit der Abschaffung des ungerechten Pflegeregresses, der Bildungsreform oder dem Beschäftigungsbonus gezeigt, was alles weitergeht, wenn die Sozialdemokratie Verantwortung für Österreich übernimmt. Ich denke, dass die Wählerinnen und Wähler sehr gut wissen, was sie von uns erwarten können.

Sie sprechen Ihren Plan A an?

Christian Kern: Ja, den Plan A, den ich im Jänner vorgestellt habe und den ich in den vergangenen Monaten durch viele Inputs und Gespräche, die mein Team und ich im ganzen Land geführt haben, weiterentwickelt habe. Im Plan A sind auf über 200 Seiten viele Ideen und Vorschläge enthalten, die das Land ein ordentliches Stück nach vorne bringen und die Menschen ganz konkret in ihrem täglichen Leben unterstützen. Das unterscheidet mich auch von dem einen oder anderen politischen Mitbewerber, der statt auf Inhalte nur auf Show setzt.

Von der ÖVP gibt es bis jetzt kein Wahlprogramm. Kolportiert wird, dass es erst Ende September kurz vor der Wahl präsentiert werden soll. Zwei ursprünglich geplante Konfrontationen mit Ihnen, eine davon im Fernsehen, hat Sebastian Kurz abgesagt. Läuft die ÖVP vor der inhaltlichen Auseinandersetzung davon?

Christian Kern: Nun, es gibt die, die tagein, tagaus am liebsten nur über Flüchtlinge reden wollen. Keine Frage: Diese Herausforderung müssen wir gemeinsam bewältigen, auch dazu habe ich einen Plan vorgelegt. Aber wer redet darüber, wie wir Jobs, leistbare Wohnungen, sichere Pensionen und die beste Bildung für unsere Kinder schaffen? Nur die Sozialdemokratie. Wir kämpfen für die, die uns brauchen.

ÖVP-Obmann Kurz spricht immerhin von 14 Milliarden Euro, die er einsparen möchte. Ist das Ihrer Meinung nach realistisch?

Christian Kern: Wenn ÖVP-Obmann Kurz 14 Milliarden einsparen will, klingt das wie eine gefährliche Drohung. Dazu müsste er tausende Polizistinnen, Polizisten und Lehrkräfte nachhause schicken. Wir kennen das schon von Schwarz-Blau: Heraus kamen Kürzungen bei den Pensionen, bei der Gesundheit, bei Sozialleistungen. Dazu darf es nicht noch einmal kommen. Über allen Plänen, die ich vorgestellt habe, steht ein Gedanke: Unser Land besser, moderner, gerechter zu machen. Österreich steht gut da, aber es braucht auch Veränderung: mit Fingerspitzengefühl und Blick auf den sozialen Ausgleich. Dafür bin ich in die Politik gegangen und dafür werde ich kämpfen.

Sie sagen, Österreich steht gut da. Die ÖVP sieht das anders.

Christian Kern: Ja, wir haben die Trendwende geschafft: Österreichs Wirtschaft ist im Vorjahr wieder auf einen soliden Wachstumskurs eingeschwenkt und wächst derzeit kräftig. Das Wirtschaftsforschungsinstitut hat vor kurzem bekanntgegeben, dass das Wachstum sogar höher ist als in den meisten anderen Euro-Ländern. Für 2017 prognostizieren die Wifo-Ökonomen ein Plus des Bruttoinlandsprodukts von 2,4 Prozent, deutlich mehr als in der Eurozone mit 1,8 Prozent. Die Stimmung in den Unternehmen in Österreich ist in einigen Bereichen so gut wie noch nie zuvor. Die öffentlichen Investitionen steigen und die Arbeitsmarktlage wird besser, die Arbeitslosigkeit geht zurück.

Angesichts dieser positiven Entwicklungen warne ich davor, und das betrifft insbesondere die ÖVP, unser erfolgreiches Land krankzujammern. Wir erinnern uns an den berüchtigten „Abgesandelt“-Sager. Oder an den Sager von ÖVP-Chef Kurz, der erst vor kurzem behauptet hat, dass Österreich als Wirtschaftsstandort deutlich zurückgefallen sei. Mit der wirtschaftlichen Reputation eines Landes spielt man nicht. Auch unser Regierungspartner sollte doch dazu stehen, was wir gemeinsam erreicht haben. Tatsächlich ist unser Wirtschafts-Image so gut wie lange nicht mehr. Alle sehen die großen Chancen in diesem Land, die Stabilität, die Verlässlichkeit. Eine internationale Studie hat Österreich vor kurzem bescheinigt, das vierterfolgreichste Land der Welt zu sein. Wir sollten einen Wahlkampf führen, der positiv ist, mit Optimismus, und nicht einen, der unser Land kaputtredet und Investoren verunsichert. Jetzt müssen wir darauf schauen, dass dieser Aufschwung bei allen ankommt.

Wie wollen Sie dafür sorgen, dass die Menschen auch wirklich vom Aufschwung profitieren? In Österreich ist etwa die Steuerbelastung auf Einkommen im internationalen Vergleich sehr hoch. Sind hier Entlastungen geplant?

Christian Kern: Das Steuersystem hat gegenüber Konzernen und großen Vermögen zu wenig Biss, gleichzeitig schlägt es aber bei der hart arbeitenden Mittelschicht voll zu. Fast zwei Drittel aller Einnahmen im Steuersystem kommen vom Faktor Arbeit. Entlasten wir doch den Faktor Arbeit für Arbeitgeber_innen und Arbeitnehmer_innen. Wenn die ersten 1.500 Euro steuerfrei bleiben, entspricht das einer Entlastung von 500 Euro pro Person, die Steuern zahlt. Und wenn wir die Steuern auf Arbeit um drei Milliarden Euro senken, ist auch jede_r Beschäftigte für den Arbeitgeber um 500 Euro billiger. Das versetzt sie in die Lage, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Das ist auch eine unserer Koalitionsbedingungen. Auch für Mindestpensionist_innen soll es mehr Geld geben, genauso wie Entlastungen für Lehrlinge. Mein ganzes Programm ist im Grunde darauf ausgelegt, dass der Erfolg, der in Österreich eingefahren wird, bei denen ankommt, die es verdient haben. Mehr Geld, das im Börsel überbleibt, mehr Investitionen in Jobs und eine Top-Infrastruktur etwa bei Bildung und Gesundheit. So profitieren die Menschen vom Aufschwung.

Wie sollen die Entlastungen gegenfinanziert werden?

Christian Kern: Es wäre nicht der Plan A, wenn wir nicht auch schon die Finanzierung mitbedacht hätten: Einsparungen bei Verwaltung und Förderungen durch eine Reform nach dem Prinzip „1 Bereich, 1 Zuständigkeit“ bringen zwei Milliarden Euro. Weiters müssen globale Konzerne, die sich de facto ihrer Steuerpflicht entziehen, stärker in die Pflicht genommen werden. Es kann nicht sein, dass jeder Würstelstand oder jedes Kaffeehaus mehr Steuern zahlt als Starbucks & Co. Da gibt es nationale Spielräume, die man ausschöpfen kann. Das muss unbedingt gemacht werden. Solche Verschärfungen bei den Konzernsteuerregeln können bis zu 1 Milliarde Euro bringen. Und – in Zeiten steigender Automatisierung – ist auch eine Verbreiterung der Finanzierungsgrundlage des Familienlastenausgleichsfonds über den Faktor Arbeit hinaus ein Thema. Das brächte Mehreinnahmen von 1,5 Milliarden Euro. Eine faire Steuer auf Erbschaften von mehr als 1 Millionen Euro soll helfen, die Pflege zu finanzieren. Diese gerechte Steuer ist Koalitionsbedingung.

Wäre eine solche Steuer im Sinne der Bevölkerung?

Christian Kern: Wir haben für die Forderung nach einer Erbschaftssteuer die Unterstützung der Österreicher_innen: Laut einer Umfrage für das Nachrichtenmagazin „profil“ sprechen sich 56 Prozent dafür aus. Zusammenfassend kann ich sagen: Wir wollen diese sozial gerechte Steuer umsetzen, die Bevölkerung ist dafür, nur die ÖVP steht auf der Bremse und will das Pflegeregress-Aus lieber über Einsparungen bei den Pflegeheimen finanzieren. Zur Erbschaftssteuer muss man auch klar festhalten: Die würde nur die reichsten zwei bis drei Prozent betreffen. Erbschaften bis zu einer Million Euro blieben unberührt. Das ist eine, wie ich finde, faire und sozial gerechte Maßnahme, die pro Jahr rund 500 Millionen Euro bringen würde. Diese 500 Millionen Euro würde ich für die Pflege zweckwidmen, dann kommt dieses Geld allen zugute, die Hilfe benötigen.

Apropos Abschaffung des Pflegeregresses: Wer profitiert davon?

Christian Kern: Das ist ein enormer Erfolg, denn der Pflegeregress war für viele Menschen eine 100-prozentige Erbschaftssteuer, weil auf alles, was sich die Menschen ihr Leben lang aufgebaut und was sie angespart haben, zurückgegriffen werden konnte, sobald sie professionelle Pflege brauchten. Das war alles andere als gerecht. Weitere Verbesserungen für die Pflege sind auch in meinem Plan A enthalten: Das Pflegegeld soll jährlich valorisiert werden und 50 Prozent der Kosten, die die Menschen aus ihrer Tasche für mobile Dienste zahlen, sollen übernommen werden.

Das Bundesland Salzburg ist ganz besonders von einer Ausdünnung des ländlichen Raumes betroffen. Wie lautet Ihre Antwort auf diese Herausforderung?

Christian Kern: Um den ländlichen Raum zu stärken, drehe ich an mehreren Schrauben. Zum einen soll eine Standort-Offensive im Ausmaß von einer Milliarde Euro umgesetzt werden – vom Breitbandausbau bis zur lokalen KMU-Förderung. Das bringt Anreize zu investieren und schafft Jobs. Außerdem plane ich eine Öffi-Offensive, also ein  österreichweit einheitliches Angebot von öffentlichem Verkehr im ländlichen Raum. Nicht zuletzt gehören der Ausbau der Kinderbetreuung mit Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem 1. Geburtstag und der Ganztagsschulen, eine bessere Gesundheitsversorgung durch die neuen Primärversorgungszentren und mehr Sicherheit durch mehr Polizistinnen und Polizisten auf unseren Straßen dazu.

Als die SPÖ kürzlich den Mangel an Polizist_innen zum Thema gemacht hat, beschwichtigte die ÖVP. Bundesminister Wolfgang Sobotka zeigte sich ungewohnt wortkarg.

Christian Kern: Die Menschen müssen sich in unserem Land sicher fühlen können. Das Problem: Wir haben zu wenige Polizistinnen bzw. Polizisten. Deswegen setze ich mich dafür ein, dass 2.500 zusätzliche Polizistinnen und Polizisten auf unseren Straßen ihren Dienst versehen. Das ist Koalitionsbedingung. Denn der Personalmangel wirkt sich auf die öffentliche Sicherheit aus, aber auch auf die im Dienst stehenden Beamtinnen und Beamten.  Denn für diese bedeutet das mehr Stress und eine höhere Burn-out-Gefahr. Und unsere Polizei benötigt die beste Ausrüstung, um ihren Beruf gut und sicher ausüben zu können.

Und wie stehen Sie nun zum Thema Flüchtlinge?

Christian Kern: Migration und Flucht sind Herausforderungen, die wir bewältigen müssen. Allerdings besonnen und mit ruhiger Hand. Wir müssen Fluchtursachen bekämpfen, die Hilfe vor Ort und etwa Zentren für Migrationsverfahren, z. B. in Niger, ausweiten. Deswegen habe ich einen 7-Schritte-Plan bis 2020 vorgelegt. Es braucht Anreize für die Menschen, vor Ort zu bleiben, wie zum Beispiel eine Art Marshall-Plan für Nordafrika. Mit unseren 7 Punkten verfügen wir über gute Konzepte, um illegale Migration zu stoppen und so jenen helfen zu können, die unsere Hilfe benötigen. Einfach zu sagen, ich will die Mittelmeer-Route schließen, funktioniert nicht. Mit Schlagzeilen hat noch nie einer ein Problem gelöst.

Wirtschaftskrise, Bankenkrise, Eurokrise, aber auch die Flüchtlingskrise haben die Europäische Union vor eine Zerreisprobe gestellt. Obwohl der Brexit für viele undenkbar schien, wird das Vereinigte Königreich die EU verlassen. Nach Ihrem gemeinsamen Gespräch in Salzburg verkündete der französische Präsident Emmanuel Macron, dass Europa neu gegründet werden muss. In welche Richtung sollte sich die Europäische Union Ihrer Meinung nach entwickeln?

Christian Kern: Im Vordergrund steht auf EU-Ebene der Kampf gegen Steuerbetrug: Denn jeder, auch jeder Großkonzern, muss seinen fairen Beitrag für die Gemeinschaft leisten. Hier gibts auch nationale Spielräume, die ich ausschöpfen will, aber am besten löst man das Problem Steuervermeidung gemeinsam. Ein weiteres wichtiges Projekt ist es, Lohn- und Sozialdumping einen Riegel vorzuschieben. Gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort muss endlich Wirklichkeit werden. Außerdem will ich die soziale Dimension der Union stärken. Neben den vier Grundfreiheiten in der EU brauchen wir eine starke soziale Säule, die gute Arbeitsbedingungen und soziale Mindeststandards wieder in den Mittelpunkt rückt. Wir brauchen Wachstum, Beschäftigung zu guten Bedingungen und soziale Sicherheit. Ein soziales Europa heißt für uns mehr Jobs durch mehr öffentliche Investitionen, bessere Jobs durch einen entschiedenen Kampf gegen Lohn- und Sozialdumping und mehr Gerechtigkeit durch Kampf gegen Steuerbetrug und Steuervermeidung. Die Zeit, in der die Europäische Union eine reine Wirtschaftsunion war, ist vorbei.

Vielen Dank für das Gespräch.

 


Fotos: BKA/Andy Wenzel

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