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Im Westen Neues: Dunkirk

posted by Johannes Mayrhofer 10. August 2017 0 comments

Es ist fast zu ruhig. Nur der Wind weht kühl durch die malerische Altstadt Dünkirchens, durch deren Straßen ein paar verlorene britische Soldaten wandern. Der Feind – die deutsche Wehrmacht – lässt die jungen Männer per Flugblatt wissen, dass sie eingekreist sind, dass es aus diesem Kessel kein Entrinnen gibt. Hoffnung sucht man in den Blicken der Soldaten vergebens. Schüsse fallen. Die Ruhe vor dem Sturm ist vorbei. Einer der Soldaten kann sich hinter die französische Linie zum Strand retten, wo er mit hunderttausenden anderen auf die Evakuierung wartet. Es ist Ende Mai des Jahres 1940. Der Zweite Weltkrieg ist in vollem Gange Hollywood-Mastermind Christopher Nolan hat beschlossen, uns in seinem neuesten Werk davon zu erzählen.

Sein Film Dunkirk erzählt die reale Geschichte  der ‚Operation Dynamo‘ aus drei Perspektiven, die jeweils einen unterschiedlichen Zeitraum umfassen. Wer gewillt ist, bei dem Film mitzudenken, kann sich also durchaus auf einen Hauch interstellarer Zeitkrümmung gefasst machen und im Kopf entwirren, wieso man manche Situationen aus verschiedenen Blickwinkeln mehrmals sieht.

Einerseits sehen wir die Geschichte aus der Sicht des oben beschriebenen Soldaten. Die Internet Movie Data Base führt ihn schlicht als Tommy (Fionn Whitehead). Sein Name wird im Film nicht erwähnt, weil er keine Bedeutung hat. Andererseits, im wahrsten Sinne des Wortes, nämlich auf der anderen Seite des Ärmelkanals, packt ein Mister Dawson (Mark Rylance) seine beiden Söhne George (Barry Keoghan) und Peter (Tom Glynn-Carney) und jede Menge Schwimmwesten in seine private Yacht. Er will nach Dunkirk übersetzen, um den britischen Soldaten zu helfen.

Als dritten Blickwinkel zeigt uns Christopher Nolan das Geschehen aus der Vogelperspektive. Mit dem Piloten Farrier (Tom Hardy) erleben wir den Kampf um Dunkirk aus dem Cockpit seiner Spitfire. Während die Soldaten am Boden unter den dauernden Angriffen der Luftwaffe um ihr Leben bangen, der Vater mit seinen Söhnen im Boot überstellt, liefert sich Farrier tödliche Luftkämpfe mit deutschen Jägern und Bombern. Die deutsche Sicht wird komplett ausgeklammert. Die Wehrmacht ist eine gesichtslose grausame Masse, die wie eine gigantische Woge einfach über alles hinwegfegt.

Kurz zum realen Hintergrund: Die deutsche Armee kesselt im Mai 1940 die britische Armee im französischen Dunkerque ein, verzögert jedoch ihren Bodenangriff, um den britischen und französischen Truppen mit Luftangriffen zuzusetzen. Da die Briten den Verlust ihres Expeditionskorps nur schwer verkraftet hätten, wird eine riskante Rettungsaktion gestartet, bei der auch kleinere Schiffe wie Fischkutter und Rettungsboote genutzt werden, um die Soldaten aus dem Kessel nach England auszuschiffen. Knapp 338.000 Soldaten (darunter auch etwa 100.000 Franzosen) können evakuiert werden. Etwa 40.000 nicht. Die britische Kriegspropaganda stellt die Evakuierung als heldenhaftes militärisches Wunder dar.

Um das Loblied auf Nolans Umsetzung der Geschehnisse zu beginnen, sei erst kurz erinnert, wie (amerikanische) Kriegs- aber auch Antikriegsfilme (ein umstrittener Terminus) in der Regel ablaufen. Zunächst erleben wir das beschauliche Leben in der Heimat, lernen die liebenswerten Charaktere kennen und bekommen so ein gutes – wenn auch manchmal kitschiges – Gefühl dafür, was diese Helden bereit sind zu opfern. Um den Kontrast zwischen beschaulicher Heimat, für die es sich zu kämpfen lohnt und dem Schrecken des Krieges zu erhöhen, wird oftmals nicht mit expliziten Gewaltdarstellungen gegeizt. Diese können als Stilmittel durchaus funktionieren. Umso bemerkenswerter ist es, dass Nolan sowohl auf das Heimatidyll als auch auf fliegende Gedärme zur Gänze verzichtet.

Die Hauptfigur am Strand von Dunkirque ist ein namenloser junger Soldat. Er darf zwar ein paar Mal schießen, ob er trifft, bleibt aber gleichgültig. Er ist kein strahlender Held. Er ist ein Mensch, der nichts anderes will, als diesen Irrsinn zu überleben. Aus seiner Perspektive sehen wir, wie die britischen Truppen, die auf ihre Evakuierung warten, versuchen, die stetigen Angriffe der Stukas zu überleben und unausweichlich dezimiert werden. Hier ist das Grauen des Krieges am spürbarsten. Mit jedem Schiff, das bei deutschen Angriffen versenkt wird, schwindet die Hoffnung aufs Überleben mehr. Blankes Entsetzen und drohende Panik sind allgegenwärtig. Ein Gefühl, das sich nicht nur wegen der großartigen Schauspieler, sondern auch des exzellenten Soundtracks wegen direkt auf das Kinopublikum überträgt. Hans Zimmer liefert hier keine Musik, die man als Beigabe bei Feuerwerken spielt. Der Score von Dunkirk baut sich dezent auf, steigert sich und ist letztendlich markerschütternd. Die drückende Atmosphäre auf diesem Strand wird direkt in den Kinosaal übertragen und braucht sich, obgleich sie ganz anders inszeniert ist, vor Steven Spielbergs ikonischer D-Day-Szene in Soldat James Ryan kein bisschen zu verstecken.

Als der Vater und seine Söhne einen traumatisierten Soldaten (Cillian Murphy) von einem Schiffswrack retten, erleben wir, was der Krieg aus Soldaten machen kann. Starke Männer, die wie kleine Kinder zusammengekauert in einer Ecke sitzen, bilden einen intensiven Kontrast zum klassischen amerikanischen Weltkriegs-Heldenepos. An dieser Stelle sei aber auch spekuliert, dass Hollywood diesen Film wohl niemals finanziert hätte, würde er von amerikanischen Soldaten handeln und nicht von britischen und französischen. Symbolisch könnte man sagen, zeigt uns dieser Gerettete, wie sich der Krieg auch nach der Schlacht noch auf das Leben der Bevölkerung auswirken kann und deren Leben nachhaltig zerstört.

Während die Szenen am Strand vor allem von Ausweglosigkeit und dem nackten Kampf ums Überleben geprägt sind, haben die Zivilisten am Schiff eine größere Distanz zum Geschehen. Es wird über die Großartigkeit der Militärtechnik gefachsimpelt, gleichzeitig zeigt sich auch deren Gefährlichkeit, wenn etwa ein Flugzeug heranrast und man nicht sicher sagen kann, ob es sich um Freund oder Feind handelt.

Eine noch größere Distanz gewinnt das Geschehen in der Luft, wo die Szenen von weitläufigen Panorama-Aufnahmen des Ärmelkanals geprägt sind. Wir gewinnen Abstand zu dem grausamen Treiben am Boden. Fast schon romantisch könnte man die Aufnahmen über dem Ärmelkanal zwischen Wolken und Sonnenschein sehen. Auch wenn die Spitfire-Piloten ruhig und besonnen sind, sind diese Momente vor allem für die Zuschauerinnen und Zuschauer äußerst intensiv. Wenn aus heiterem Himmel plötzlich ein Kugelhagel auf das Flugzeug niedergeht und man in seinem Kinosessel zusammenzuckt, weiß man, warum man sich diesen Film auf der größtmöglichen Leinwand mit der bestmöglichen Soundanlage ansieht.

Der größtmögliche Saal und die bestmögliche Technik sind bei diesem Film absolute Pflicht. Für Christopher Nolan ist Dunkirk nämlich auch eine Liebeserklärung an das Kino.

Er möchte das Medium Film aus den Fängen des Internets zurück auf den Bigscreen holen und Dunkirk ist ein äußerst überzeugendes Argument, um die heimische Couch zu verlassen, denn nur dort wird sich dieser außergewöhnliche Film in seiner vollen Pracht entfalten. Wie groß auch der heimische Fernseher oder Projektor strahlen mag, die IMAX-Leinwand ist dennoch größer und genau dorthin gehört Dunkirk unzweifelhaft.

Gegen Ende (kein Spoiler) wird der Film nur scheinbar etwas pathetisch. Es werden Reden geschwungen und Helden gefeiert. Als Zusehende erleben wir in diesen Szenen allerdings nur das, was die britische Kriegspropaganda tatsächlich aus diesem Ereignis gemacht hat. Die gebotene Propaganda steht hingegen im starken Kontrast zu den traumatischen Bildern, die wir zuvor am Strand gesehen und miterlebt haben. Dunkirk ist bis zum Schluss kein Kriegsfilm. Wer wehende Flaggen, enge Kameradschaft und Heldentum im Stile von Hacksaw Ridge oder James Ryan erwartet, wird von Dunkirk enttäuscht werden. Dunkirk erzählt von Menschen, die vom Krieg aufgerieben werden. Der Krieg hat bei Christopher Nolan nichts Feierliches, nichts Poetisches und wenig Heldenhaftes.

Dank seiner ungewöhnlichen Erzählstruktur, den großartigen Schauspielern und der Nolan-typischen perfekten Inszenierung kann man sagen: Mit Dunkirk gibt es im (Kriegsfilm-) Westen noch Neues!

Dunkirk
Regie: Christopher Nolan
Drehbuch: Christopher Nolan
Soundtrack: Hans Zimmer
Cast: Fionn Whitehead, Tom Glynn-Carney, Jack Lowden, Cillian Murphy, Tom Hardy, Aneurin Barnard, Sir Kenneth Brannagh
Laufzeit: 107 Minuten
FSK: 12
Kinostart: 27.07.17 (AT)

 

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