Wien – Fin de Siècle: Kultur und Wissenschaft werden, von jenen, die es sich leisten können, großgeschrieben. Intellektuelle treffen sich in ihren Kreisen und verknüpfen und zerreißen Gedankenwelten und Werke. Es ist eine Zeit, in der sich Kunst und Kultur zu Recht selbst feiern. Während die österreichische Literatur mit Stefan Zweig, einem Kind jener Sternstunden, einen ihrer Höhepunkte erreicht, wachsen gleichermaßen Kriegslust und Antisemitismus im ganzen Land. Der Rest ist im wahrsten Sinne des Wortes Geschichte. Eine Geschichte, die Stefan Zweig irgendwann nicht mehr ertragen können wird.
Wie zeitlos und heutzutage leider auch brandaktuell Zweigs Schaffen ist, ist beispielsweise in Die Welt von Gestern nachzulesen. Wie liebevoll und eigenwillig die Atmosphäre seiner Werke auch filmisch umgesetzt wird, zeigt etwa Wes Andersons Grand Budapest Hotel. Die deutsche Regisseurin und Schauspielerin Maria Schrader hat es sich mit Vor der Morgenröte (englischer Titel: Stefan Zweig: Farewell to Europe) zur schwierigen Aufgabe gemacht, Zweigs letzte Jahre vor seinem Suizid zu verfilmen. Dabei erzählt sie nicht eine durchgehende Geschichte bis zum bitteren Ende, sondern greift in ihrer Narration wichtige Episoden und Stationen von Stefan Zweigs Leben im Exil auf.
Als der Film ansetzt, ist Zweig (Josef Hader) bereits ein gefeierter Mann. Er wird als Ehrengast in Rio von einem Empfang zum nächsten gereicht. Bei einem Kongress zeigt sich erstmals, was das eigentliche Grundthema des Films und die wahre Tragödie ausmachen wird. Zweig weigert sich, klar gegen Hitler und den deutschen Nationalsozialismus aufzutreten. Er erklärt, dass er als Schriftsteller zwar Werke mit politischer Bedeutung schaffen könne, sich aber niemals auf das Niveau jener herablassen würde, die seine Sprache mit menschenverachtenden Parolen missbrauchten. Zweig ist letztendlich zerrissen von der Neugier für das seines Erachtens nahezu paradiesische Brasilien, seiner Liebe für ganz Europa und der Trauer, eben jenem hilflos beim Brennen zusehen zu müssen.
Nicht genug kann man Josef Hader für seine schauspielerische Darbietung loben. Stefan Zweigs Erscheinungsbild, welches irgendwo im kulturellen Gedächtnis verankert ist, verschmilzt unter Schraders Regie mit dem österreichischen Ausnahme-Kabarettisten Josef Hader. Diesem gelingt es, die Melancholie und Tragik, aber auch die Lichtblicke und Hoffnungsschimmer mit einer Überzeugungskraft auf die Leinwand zu bringen, dass man am Ende des Films sämtliche Fotografien Stefan Zweigs, die uns auf den Rückseiten alter Schulausgaben der Schachnovelle durch das Gymnasium begleiteten, vergessen hat. Auch die anderen Schauspielerinnen und Schauspieler, darunter Barbara Sukowa als Friderike Zweig, Aenne Schwarz als Lotte Zweig oder Matthias Brandt als Ernst Feder, wissen zu überzeugen und so gelingt Vor der Morgenröte die Gratwanderung einer gefühlvollen Biografie, die nie in plumpen Kitsch abfällt und die Zweig auch zu keinem Zeitpunkt zu einem unfehlbaren Helden hochstilisiert.
Nicht zuletzt ist das der ruhigen Kinematografie zu verdanken, die oftmals in langen Einstellungen innehält und völlig auf extradiegetische Musik verzichtet. Wo in anderen Filmen der Soundtrack entscheidend zur Stimmung der Zuschauenden beiträgt, entsteht durch diesen Verzicht eine Grundstimmung, die ein Gefühl von Sicherheit vermittelt und den Krieg und seine Schrecken in weite Ferne rückt. Zweig kann sich frei durch die neue Welt, ob nun Brasilien oder die Vereinigten Staaten, bewegen. Ihm geschieht nichts, aber der Krieg erreicht ihn auf geistiger und seelischer Ebene. Seine Sorge und Aufmerksamkeit gilt vor allem jenen, die in Nazi-Deutschland zurückgeblieben sind. Seine zunehmende Ohnmacht, Hilflosigkeit und Verzweiflung sind äußerst subtil dargestellt und lassen sich dennoch erahnen.
“Ich glaube an ein freies Europa. Ich glaube daran, dass Grenzen und Pässe eines Tages der Vergangenheit angehören werden. Ich bezweifle allerdings, dass wir das noch erleben werden.” – Stefan Zweig (Josef Hader) in Vor der Morgenröte
Damit stellt sich der Film in seiner Darstellung auch in einen bewussten Kontext zur derzeitigen Flüchtlingssituation in Europa, die von vielen Seiten vor allem durch Hetze und Angst getragen wird. Es dürfte wohl nicht ganz ein Spiel des Zufalls sein, dass Vor der Morgenröte genau im Jetzt der europäischen Geschichte erscheint. Plakativ anklagend ist der Film dabei niemals, obgleich sich das Unbehagen und die Erinnerung an jene Tage nicht abschütteln lassen, in denen große Intellektuelle, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und zahlreiche Kunstschaffende in Scharen ihre Heimat verlassen mussten, um sie einer wutgeifernden Masse zu überlassen, die nicht ruhen sollte, bis ganz Europa in Trümmern lag.
Maria Schrader ist mit Vor der Morgenröte ein ruhiger, sensibler, melancholischer und stimmungsvoller Film gelungen, der die letzten Jahre eines der bedeutendsten Schriftsteller der deutschen Literatur einfängt, ohne diese zu verklären. Wenn man dem Film etwas vorwerfen mag, dann, dass er in seiner Inszenierung und Stilistik vielleicht ein bisschen zu sehr nach dem Oscar für den besten fremdsprachigen Film greift.
Vor der Morgenröte
Regie: Maria Schrader
Drehbuch: Maria Schrader, Jan Schomburg
Soundtrack: –
Cast: Josef Hader, Barbara Sukowa, Aenne Schwarz, Matthias Brandt, Charly Hübner
Laufzeit: 106 Minuten
FSK: ohne Altersbeschränkung
Kinostart: 03.06. (AT)