In dem Chaos und Wahnsinn von München am Freitag, dem 22.7.16 war es schön zu sehen, wie sich Menschen in all der Not geholfen und solidarisch gezeigt haben. Wie einige Politikerinnen und Politiker möchte auch ich anerkennend erwähnen, wie schnell und effektiv die Polizei – auch international kooperierend – mit der Situation umgegangen ist. Neben der Tat selbst, die völlig unentschuldbar und auf keine Weise zu rechtfertigen ist, sind leider auch viele Sachen schiefgegangen. Die Polizei musste sich um Falschinformationen kümmern und die sozialen Medien explodierten geradezu im Wahnsinn ungebremster Meinungsäußerungen. Zahlreiche Menschen wussten sofort wer schuld und was das Motiv war. Manchmal waren es die Bilderberger und ihre große Weltverschwörung, manchmal war es zweifelsfrei nur ein islamistischer Attentäter. Vermutlich sind auch von linker Seite Pauschalverurteilungen gefallen. Klassisches Internet 2016: Man zeigt schreiend auf die anderen und hebt hervor, wie dumm und verblendet diese nicht sind. Zu einer Nebensache verkommt, dass bei diesem Ereignis Menschen ihr Leben verloren.
Ich möchte im folgenden Text keine Schuld zuweisen. Ich will weder die Opfer schmähen noch dem Täter eine Bühne bieten. Ich möchte etwas ansprechen und meine persönliche Meinung dazu ausdrücken. Meines Erachtens macht es sich die Politik im Falle München wieder einmal zu einfach. Der Attentäter war kein Islamist. Wer aber denkt, dass die Politik deshalb um eine schnelle Lösung verlegen sei, der irrt.
In einer Pressekonferenz wies Dr. Thomas de Maizière (CDU) – Minister für Inneres – darauf hin, dass der Täter gemobbt wurde, sich möglicherweise in der Gesellschaft unwichtig fühlte und keine Erfolgserlebnisse im echten Leben hatte. Er ließ es sich dennoch nicht nehmen, eines seiner Lieblingsthemen zu präsentieren. Bei Minute 22:55 des Facebook-Videomitschnitts lässt er Folgendes verlauten:
Es ist nicht zu bezweifeln, so war es auch in diesem Fall, dass das unerträgliche Ausmaß von gewaltverherrlichenden Spielen im Internet auch eine schädliche Wirkung auf die Entwicklung gerade junger Menschen hat. Das kann kein vernünftiger Mensch bestreiten. Und auch das ist etwas, das in dieser Gesellschaft mehr diskutiert werden sollte als bisher. – Thomas de Maizière
Die Killerspiel-Debatte, die Herr Maizière im ersten Jahrzehnt der Zweitausender-Jahre maßgeblich mitgeprägt hat und von der die meisten Branchenvertreter und die Fachpresse dachten, sie sei längst vorüber, bekommt also einen neuen Anstoß. Nachdem er auf fast jede Frage geantwortet hat, dass dazu die Ermittlungen noch abgewartet und Informationen ausgewertet werden müssten, findet er hier klare Worte. Er möchte diskutieren? Diskutieren wir! Schließlich halte ich mich für einen vernünftigen Menschen und bestreite seine Aussage dennoch. Glücklicherweise springen die meisten Medien nicht mehr blind auf diesen Zug auf und befassen sich mittlerweile sehr kritisch mit dieser Aussage, was unter anderem auch daran liegen dürfte, dass die Journalistinnen und Journalisten von heute mit Spielen aufgewachsen sind und das Ganze differenzierter sehen.
Jugendschutz halte ich für wichtig. Das fand ich mit zarten 16 noch nicht, als ich gutmütige Verwandtschaft mit rhetorischer Raffinesse („Oma, gehst du mal mit mir zum Libro?“) dazu brachte, mir ein Spiel zu besorgen, das auf den Namen Manhunt hört und in Deutschland (zumindest damals) beschlagnahmt war. Mittlerweile teile ich die Ansicht, dass ein Spiel wie GTA 5 nicht in Kinderhände gehört. Es bietet neben einer fantastisch-großen Spielwelt, vielfältigen Möglichkeiten (vom Autorennen, über Yoga- oder Flug-Stunden bis zum Tennis), zahlreichen Anspielungen auf die Populärkultur, eben auch ziemlich brutale und teilweise auch zynisch gewaltverherrlichende Spielszenen. Auch überbieten sich die Spiele immer wieder mit schockierenden Skandalszenen. Ich möchte nicht darüber diskutieren, ob es sinnvoll, pädagogisch wertvoll oder moralisch fragwürdig ist, so etwas überhaupt herzustellen.
Unter dem Strich: Spiele sind im Allgemeinen – ob es um friedliches Häuserbauen in Sims, die Pokemon-Jagd oder um das Abtrennen von Ungeheuer-Gliedmaßen im Weltraum-Horror-Spiel Dead Space geht – für Millionen von Spielerinnen und Spielern in allererster Linie eines: sehr unterhaltsam und das dürfen sie auch sein.
Vergleichen wir kurz das Medium Film, über das ich hier bekanntlich öfter schreibe, mit dem Medium Spiel. Ersterem wird ohne Zweifel der Status Kunst zugestanden. Letzteres hat damit noch zu kämpfen. Meines Erachtens beruht diese Unterscheidung darauf, dass das Medium Film in einer Zeit erwachsen wurde, in der die Werbeeinflüsse noch nicht so stark waren. Die Spielebranche war von Anfang an stark mit der Werbebranche und mit dem Marketing verwoben, wodurch sie mit der Konnotation des Geldmachens verknüpft ist. Filme sind Kunst, Spiele sind ein Produkt. Ich möchte kurz anmerken, dass das Schwachsinn ist. Schlicht und ergreifend, weil bei modernen Spielen der gleiche kreative Aufwand betrieben wird wie bei einem Film. Vom Drehbuch über die Zwischensequenzen, den Soundtrack (auch Hans Zimmer hat schon für Videospiele Musik geschrieben) bis zum Design und Conceptartworks steckt oft ein ähnlich schöpferischer Aufwand hinter Spielen wie hinter aktuellen Blockbustern.
Die spielbaren Themenbereiche sind vielfältig wie im Film. Sie reichen von politisch sozialkritischen Themen, gefühlvollen Geschichten, unglaublich kunstvollen Spielen bis hin zu engagiert feministischen Entwicklungen. Damit bieten sie zahlreiche Möglichkeiten in spannende, vielfältige und kreative Welten einzutauchen. Spiele bieten wie Filme die Möglichkeit, in die – mal besseren und mal schlechteren – Schöpfungen anderer Menschen zu blicken. Für mich kommt das Erforschen einer Spielwelt dem Besuch einer Ausstellung gleich. Es ermöglicht Einblicke in die Schöpfung eines fremden Geistes, was mich unglaublich fasziniert. Ich würde mir wünschen, dass das Medium Spiel ebenso ernsthaft wie das Medium Literatur bewertet wird! Nicht zuletzt deshalb, weil es im Spielebereich auch Literaturumsetzungen gibt und weil die Grenzen zwischen Spiel, Film und Literatur oft fließend sind.
Herr Dr. Maizière, wir können gerne über das Medium Videospiel und seine – unklare und juristisch nicht definierte Kategorie ‚Killerspiel’ – reden. Es würde aber voraussetzen, dass Sie sich mit dem Medium an sich auseinandersetzen und nicht bloß mit dem Finger darauf zeigen! Das wäre in etwa so, als würde ich 22% der Weltbevölkerung, die laut Wikipedia muslimischen Glaubens sind, als Terroristen verurteilen. Manche machen das. Viele finden daran Gefallen. Ist es realistisch, ist es plausibel? Hält es der Argumentation stand? Lösen Pauschalverurteilungen Probleme? Nein.
Es ist gut, dass es einen deutschen Jugendschutz gibt. Dieser zählt – neben dem australischen – zu den strengsten der Welt. Man kann auf ein Spiel oder auf einen Film ein großes rotes Pickerl kleben, auf dem „ab 18 Jahren“ steht. Man muss sich aber auch bewusst sein, dass weder dieses Pickerl noch Zensur junge Menschen daran hindern werden, diese Spiele zu spielen. Für mich als pubertierenden Jugendlichen war damals ein rotes Ab 18-Pickerl – oder wie im Falle des obengenannten Manhunt eine Beschlagnahmung in Deutschland – so ziemlich die beste Werbung, eine verlockende Einladung, fast schon ein Gütesiegel. Man muss sich bewusst machen, dass Jugendliche in Zeiten des Internets und auch, weil es Erwachsenen oft egal ist, an Inhalte gelangen werden, die für sie nicht angemessen sind. Das gute alte Verbot! Es funktioniert bei Alkohol und Drogen nicht, es funktioniert bei Schusswaffen nicht, es funktioniert bei Unterhaltungsmedien nicht. Apropos Schusswaffen: Man lernt in einem Spiel wie dem oft zitierten Counter-Strike nicht, wie man eine Schusswaffe bedient. Ein Klick mit der einen Maustaste, um zu schießen und ein Klick mit der anderen Maustaste, um nachzuladen, hat nichts mit der Bedienung einer echten Schusswaffe zu tun. Das kann kein vernünftiger Mensch bestreiten – oder Herr Maizière?
Maizière erwähnt in der Pressekonferenz auch, dass der Täter der Polizei bisher nicht aufgefallen sei und die Nachrichtendienste keinerlei Informationen zu ihm hatten. Es stellt sich also die Frage, ob mehr Überwachung eine Antwort auf dieses Problem ist. Eine Frage, die, selbst wenn es um Terror geht, schwierig zu beantworten ist. Im Falle vernachlässigter junger meist männlicher Täter ist sie aber zu verneinen. Ich denke, die Politik macht es sich zu leicht, wenn sie in ihrer Erklärungsnot „Killerspiele“ und „Counter-Strike“ schreit.
Ich möchte eine kurze Anekdote aus meiner Arbeit erzählen. Der Arbeit, der ich nachgehe, wenn ich nicht gerade im Kino sitze und über gute oder schlechte Filme schreibe. Ich arbeite in der Erwachsenenbildung und ich spreche mit meinen Kursteilnehmerinnen und Teilnehmern auch über Medien. Um Computerspiele geht es zwar nicht, wir thematisieren sie aber auch, da ich doch viele Eltern im Kurs sitzen habe, deren Kinder, oft unter 18 Jahren, auch Videospiele spielen. Meistens zeige ich einfach nur das Coverartwork von GTA 5 und die Eltern nicken zustimmend. Dieses Spiel kennen sie, dieses Spiel spielen ihre Kinder.
Ich zeige ihnen dann auf Youtube die Szene, in der der dritte Hauptcharakter Trevor erstmals vorgestellt wird. Die Szene beinhaltet extreme Gewaltdarstellung, Gewaltverherrlichung, Geschlechtsverkehr, Crystal Meth und Totschlag. Dramaturgisch macht sie uns Spielenden klar – wir übernehmen die Kontrolle über einen komplett wahnsinnigen Soziopathen, quasi eine extreme Überzeichnung von Walter White aus Breaking Bad. Sie hält uns auf zynische Weise auch den Spiegel vor und hebt hervor, was wir im Spiel eigentlich schon die ganze Zeit unreflektiert machen. Man sollte diese Szene auch nicht isoliert aus dem dramaturgischen Gesamtkontext eines äußerst provokativen und umstrittenen Spiels reißen. Sie eignet sich aber hervorragend, um Eltern die Augen zu öffnen. Scheinbar denken viele: Spiel ist Spiel und Spiele sind für Kinder.
Blenden wir den offensichtlichen Sexismus und die Tatsache, dass die Sexszene in Bezug auf die Erscheinungsgeschichte der gesamten GTA-Reihe (Stichwort: ‘Hot Coffee’) eine mutige und eindeutig kalkulierte Provokation den amerikanischen Rating-Boards gegenüber ist, an dieser Stelle aus. Die oftmals religiösen Eltern in meinen Kursen reagieren meist schockiert, halten sich teilweise die Augen zu und können nicht glauben, was sie ihre Kinder unreflektiert spielen lassen. Vermutlich sind ein paar Elfjährige, die das Spiel jetzt nicht mehr spielen dürfen, böse auf mich.
Noch extremer hab ich diese Situation mit einer jungen Mutter erlebt. Sie hatte mir erzählt, dass ihr Sohn, unter 12 Jahren, viel Zeit mit GTA 5 verbringt. Später erzählte sie, sie hätte mit ihm im Kino den Disney-Film Alles steht Kopf gesehen. In dem Film gibt es eine Szene, in der die junge Protagonistin am Esstisch mit ihren Eltern streitet. Die Mutter fand schrecklich, dass in einem Kinderfilm solche Szenen zu sehen sind. Das würde die Kinder ja verderben und ihnen falsche Familienwerte vermitteln. Auf die Frage, ob sie denn wisse, was sie ihr Kind so spielen ließe, meinte sie trocken: Nein, sie könne ihr Kind ja schließlich nicht 24 Stunden am Tag überwachen. So ganz verhältnismäßig oder nachvollziehbar erschien mir ihr Umgang mit Medien nicht.
Ja, ich bin dafür, dass Spiele wie Grand Theft Auto 5 nicht von Kindern gespielt werden. Aber verhindern werden wir es nicht können. Wir brauchen auch nicht darüber zu sprechen, ob solche Spiele gut oder schlecht sind, denn es wird sie – genau wie Filme, in denen Menschen umkommen – weiterhin geben.
Was es braucht, ist ein neues Medienbewusstsein! Sowohl von Erwachsenen als auch Kindern. Man sollte Kindern diese Spiele nicht anbieten, aber wenn sie in Kontakt damit kommen, braucht es einen reflektierten Umgang damit. Man sollte Menschen nicht damit alleine lassen. Das gilt nicht nur für Spiele. Das gilt für Filme, Serien, Bücher, Pornografie, Videos im Internet (von der realen Exekution Saddams über 2 Girls 1 Cup und was das Internet sonst alles ausspuckt!) sowie Nachrichten und Kommentare im Social Web.
Verteufeln ist die einfache Art. Nur ist der Teufel ein verdammt attraktiver Kerl.
Ein Bewusstsein für den Umgang zu schaffen, über das Gespielte und Gesehene zu sprechen, auf unrealistische Muster hinzuweisen und zu beobachten, was diese Medien in uns selbst auslösen, das ist die andere, unbequeme Art. Die Art, die vermutlich mehr besonnene Menschen in diese Welt setzt.
Das ist Aufgabe von Erziehung. Erziehung, die in erster Linie Eltern, Lehrpersonen und Gesellschaft übernehmen und die auch durch das soziale Umfeld geprägt wird. Hier kommt die Politik ins Spiel. Hier spiele ich den Ball zurück an den Herrn Minister für Inneres, der ihn so tollpatschig der Unterhaltungsindustrie zugeworfen hat. Die Politik –und ich hoffe vor allem auf die Sozialdemokratie – ist gefordert, wieder gute Lebensbedingungen zu schaffen: in denen Kinder und Jugendliche nicht verwahrlosen. In denen neue Perspektiven geboten werden. In denen das reale Leben lebenswert ist. Die Aufstiegschancen bieten. Die Lebensziele auch für jene realistisch werden lassen, die sie nicht mehr sehen und die von der aktuellen Politik in vielen Bereichen übergangen werden. Jugendlichen muss ein Umfeld geboten werden, das sie nicht in die Hände von Radikalen (egal welcher Seite!) treibt.
Die Sozial- und Bildungspolitik muss auch junge Menschen ohne Perspektive auffangen und behutsam zurück in die Gesellschaft führen. Diese Verantwortung hört nicht bei Jugendlichen auf. Die meisten jungen Menschen, die ich kenne, sind der Ansicht, dass sie – für das, was sie leisten – zu wenig verdienen. Egal, in welchen Branchen sie tätig sind, Unzufriedenheit macht sich überall breit. Wenn sich zu große Unzufriedenheit mit zu viel Aggression paart, entsteht Gewalt. Ich weiß, dass unsere Gesellschaft derzeit vor riesigen Problemen steht. Probleme, die gelöst werden müssen, wenn wir uns nicht daran gewöhnen wollen, dass es täglich eine neue Schreckensmeldung über Anschläge und Amokläufe gibt. Ich weiß auch, dass ich hier naive Reden schwinge ohne Lösungen anzubieten. Ich weiß aber auch, dass der laute Ruf nach einem totalen Killerspielverbot das Problem nicht einmal streift. Auch wenn Dr. Thomas de Maizière das gerne so hätte.
Alle Screenshots wurden vom Autor selbst angefertigt.