Andreas Eisl berichtet für Hallo Salzburg vom (Vor)-Wahlkampf um die Präsidentschaft in Frankreich. In seinem ersten Beitrag hat er die Kandidat_innen vorgestellt und die Zersplitterung des linken Lagers beleuchtet. Diese Fortsetzung erklärt das politische System, um die aktuellen Kontoversen in Frankreich besser verständlich zu machen.
Das politische System Frankreichs
Heute ist das politische System Frankreichs als ein semi-präsidentielles System mit einer Führungsrolle der Präsidentschaft bekannt. Deswegen wird in der Öffentlichkeit auch ein vergleichsweise größeres Augenmerk auf Präsidentschaftswahlen als auf die Wahlen für das französische Parlament gelegt.
Während sich Österreich seit Ende des zweiten Weltkriegs in der sogenannten Zweiten Republik befindet, steht Frankreich aktuell bei seiner Fünften Republik, was auch mit der frühen (zumindest teilweisen) Demokratisierung des Landes im Rahmen der Französischen Revolution im Zusammenhang steht. Um eine Vielzahl an gegenwärtigen Kontroversen über und Änderungsvorschläge für das politische System Frankreichs besser verstehen zu können, ist es sinnvoll einen kurzen Blick in die Geschichte zu werfen.
Vom Vichy-Regime zur Vierten Republik
Nach der Absetzung des Vichy-Regimes im Rahmen der Befreiung Frankreichs zu Ende des zweiten Weltkriegs wurde 1946 die Vierte Französische Republik ausgerufen. Gegen die Vorstellungen von General Charles de Gaulle, der den Widerstand gegen die deutsche Besatzung angeführt hatte und von 1944 bis 1946 eine provisorische Regierung führte, wurde ein parlamentarisches Regierungssystem eingeführt (ähnlich wie in der Dritten Republik 1870-1940). Beide Parlamentskammern waren für die Wahl des Präsidenten zuständig und auf Vorschlag des Präsidenten wählte die Nationalversammlung dann einen Ministerpräsidenten. Das geltende Verhältniswahlrecht führte gemeinsam mit einem zersplitterten Parteiensystem und großen ideologischen Unterschieden zwischen den politischen Gruppen zu einem äußerst instabilen politischen System. Innerhalb von nur 11 Jahren folgten 25 Regierungen aufeinander.
Vom Algerienkrieg zu Charles de Gaulles Vision – Die Fünfte Republik
Große Kontroversen, die oft rasch das Ende für eine neue Regierung bedeuteten, waren dabei vor allem Debatten um die Bildung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft (welche schließlich nie umgesetzt wurde), sowie militärische Herausforderungen wie der Indochinakrieg sowie abschließend der Algerienkrieg, der eine Zäsur für Frankreich darstellte und die Legitimität der Vierten Republik dermaßen untergrub, sodass unter der Führung Charles de Gaulles 1958 eine Fünfte Republik ausgerufen wurde.
Diese neue Verfassung schuf eine deutliche Stärkung der Exekutive und eine Volkswahl der Präsidentschaft. Charles de Gaulle wurde anschließend an die Volksabstimmung zur Fünften Republik zum Präsidenten gewählt und blieb bis 1969 – kurz vor seinem Tod – in dieser Position. Als Befreier im zweiten Weltkrieg, Retter in der Verfassungskrise und Befrieder des Algerienkrieges, sowie als Präsident während des Wirtschaftswunders ist Charles de Gaulle für viele Franzosen und Französinnen ein absoluter „Säulenheiliger“ und hat eine Stellung inne, die im Vergleich selbst Bruno Kreiskys Ansehen in Österreich in den Schatten stellt.
Prägend für das französische politische System sind bis heute auch die Studierendenproteste im Mai 1968, die -von einem Generalstreik begleitet – langfristige Auswirkungen auf die soziale, politische und ökonomische Entwicklung Frankreichs ausübten.
Stabilität vs. mehr Demokratie – Eine Sechste Republik?
Während sich die Fünfte Republik in Bezug auf Stabilität bewährt und somit in gewisser Weise ihre Rolle erfüllt hat, leidet sie im Vergleich zu anderen westlichen Demokratien an einem speziell auf Papierform nicht besonders demokratischen System. Der/die Präsident_in hat weitreichende Machtkompetenzen, die bei ihrer vollen Ausnützung durchaus leicht zu autoritären Tendenzen führen könnten und bestimmte Verfassungsartikel können bei Gesetzesvorhaben praktisch das Parlament aushebeln (der berühmte 49.3).
Deshalb gibt es immer wieder, und vermehrt in den letzten zwei Jahrzehnten Rufe nach einer großen Verfassungsreform und die Ausrufung einer sechsten Republik, vor allem aus dem linken Spektrum. Ziel ist zumeist eine „Demokratisierung“ des politischen Systems. So schlug Arnaud Montebourg (PS) bereits 2002 eine Sechste Republik vor, eine Forderung, die in abgewandelter Form vom diesjährigen Präsidentschaftskandidaten Jean-Luc Mélenchon erneuert wurde und eines seiner zentralen Wahlkampfforderungen darstellt.
Das bringt uns auch zurück zum aktuellen Stellungskampf der Präsidentschaftskandidaten (Marine Le Pen als einzige Frau in aussichtsreicher Position ist hieran nicht beteiligt), der sich in den letzten Wochen seit dem Aufstieg von Emmanuel Macrons Bewegung en marche und dem Vorwahlsieg von Benoît Hamon bei den Sozialisten abspielt.
Das Schachspiel der Präsidentschaftskandidaten
Die Wahl von Benoît Hamon zum Präsidentschaftskandidaten der Parti Socialiste (PS) hat einerseits die Lage von Jean-Luc Mélenchon am links-populistischen Rand des politischen Spektrums verschlechtert, andererseits die Chancen für eine Wahl von Emmanuel Macron, der ein Programm der Mitte anbieten will, deutlich verbessert. Die Vorschläge Hamons sind in vielen Belangen deckungsgleich mit denen Mélenchons, mit dem Unterschied, dass letzterer einen deutlich EU-skeptischeren und protektonistischeren Kurs fahren will als der Kandidat der PS. Macrons sozial-liberaler Kurs hat dagegen viel Luft gegenüber den linken Parteien als auch den Republikanern, für die sich François Fillon ja mit einem neoliberalen und gesellschaftlich katholisch-konservativen Programm zur Wahl stellt.
Kein Anruf und ein Brief
Nachdem sowohl Hamon als auch Mélenchon in der derzeitigen Situation wohl kaum eine Chance darauf haben, die zweite Runde der Präsidentschaftswahlen zu erreichen, haben in den letzten Wochen zahlreiche Stimmen der Linken für eine gemeinsame Kandidatur (und damit auf den Verzicht eines der beiden Kandidaten) plädiert. In diesem Fall würde dann vermutlich tatsächlich eine Situation entstehen, in der vier etwa gleich starke Blöcke in die erste Wahlrunde gehen würden und das Ergebnis offener als je zuvor sein könnte (abgesehen davon, dass sich die zweite Runde für Le Pen wahrscheinlich doch ausgehen sollte).
Sowohl Hamon als auch Mélenchon bestätigten darauf medial ihr grundsätzliches Interesse daran, eine gemeinsame Wahlplattform auf die Beine zu stellen und auch Yannick Jadot, Präsidentschaftskandidat der französischen Grünen (EELV) klinkte sich in die Gespräche ein. Nachdem ein angekündigtes Telefonat von Hamon mit Mélenchon jedoch ausblieb, wandte sich letzterer schließlich mit einem langen und geschickten Brief sowohl an Hamon als auch an die Medien.
Mélenchon macht den ersten Zug
Mélenchon bietet darin quasi die Rücknahme seiner Kandidatur an, knüpft diese jedoch an eine Reihe teils innerhalb der Parti Socialiste schwer zu verkaufender Bedingungen, die garantieren sollen, dass wichtige Teile des Programms von Mélenchons Wahlbewegung sich auch in der endgültigen Wahlplattform finden. Dazu gehören (1) eine strikte Ablehnung einer Annäherung an Emmanuel Macron und seiner Bewegung „en marche“, (2) eine Rücknahme der umstrittenen Arbeitsmarktreform und der teilweisen Senkung der Lohnnebenkosten für Unternehmen (diese Maßnahme wird von großen Teilen der Linken in ihrer Funktion als Beschäftigungsimpuls als gescheitert erachtet), sowie die Aufhebung des praktisch permanenten Ausnahmezustandes seit den Anschlägen in Paris und Nizza, und (3) die Einrichtung einer verfassungsgebenden Versammlung, um eine Sechste Republik zu schaffen, die mehr direkte Demokratie und weniger Macht für die Präsidentschaft bringen soll. Darüber hinaus sollen (4) zahlreiche sozialpolitische Maßnahmen getroffen werden wie eine Erhöhung des Mindestlohns, Senkung des regulären Pensionsantrittsalters, sowie (5) ein Komplettausstieg aus der Nuklearenergie hin zu erneuerbaren Energieträgern. Abschließend fordert Mélenchon (6) noch einen Ausstieg aus NATO sowie eine gezielte Missachtung der europäischen Fiskalpolitik.
Hamon kontert mit grüner Beteiligung
Während sich ein Teil dieser Positionen mit dem Programm von Hamon vereinbaren lässt, sind vor allem Mélenchons Positionen in Bezug auf die internationale Gemeinschaft, sowie auch in Bezug auf eine verfassungsgebende Versammlung höchstwahrscheinlich ein No-Go für Hamon.
Gleichzeitig gab es ein Tauziehen um die Unterstützung von Jadot (EELV), die letzte Woche schließlich der Sozialist Hamon für sich entscheiden konnte. Das spielt taktisch in die Hände von Hamon, wobei ein möglicher Pakt zwischen ihm und Mélenchon Anfang letzter Woche bereits als „tot“ erachtet wurde. Da Hamon wahrscheinlich die besseren Karten bei den Präsidentschaftswahlen hat, besonders, da er nun auch auf die Unterstützung der französischen Grünen setzen kann, bleibt Mélenchon unter Druck, denn wenn er auf seiner Kandidatur besteht, verspielt er vielleicht die Chance auf die Umsetzung großer Teile seines Programms, da er sich und Hamon dann die entscheidenden Stimmen gegenseitig wegnehmen.
Macron mit freiem Spiel
Emmanuel Macron hingegen hat bis jetzt eine fast perfekte Vorwahlkampfsaison hinter sich. Scharfe Konkurrenz aus dem sozialistischen Lager blieb mit dem Ausscheiden von Manuel Valls aus und François Fillon im konservativen Lager leidet aktuell schwer unter Ermittlungen über die mögliche Scheinbeschäftigung seiner Frau und seiner beiden Kinder als parlamentarische Mitarbeiter_innen.
Während Macrons Programm immer noch etwas in der Schwebe ist (wenngleich am 1. März einige Dinge konkretisiert wurden), wird er mit einem sozial-liberalen Programm antreten und auf den ersten Blick setzt er wohl stark auf das flexicurity-Konzept. Dabei wird einerseits der Arbeitsmarkt flexibilisiert, andererseits jedoch auch das Sozialsystem ausgeweitet und auf bessere Weiterbildungsmöglichkeiten für Arbeitslose geachtet. Als Ansatz, der in Ländern wie z.B. Dänemark oder auch in den Niederlanden zumeist als Erfolg bezeichnet wird, bleibt es jedoch schwer zu beurteilen, ob dies auch in Frankreich tatsächlich funktionieren kann.
Letzte Woche hat Macron auf jeden Fall weiteren Rückenwind durch die Nicht-Kandidatur von François Bayrou erhalten, der in den vorherigen Präsidentschaftswahlen stets für sein Wahlbündnis der Mitte, mit der Partei MoDem angetreten ist. Der Bürgermeister der südwestfranzösischen Stadt Pau macht mit seinem Nichtantreten damit den Weg für Macron in der Mitte des politischen Spektrums noch mehr frei und bietet zusätzlich Unterstützung an, die in Form eines zumindest teilweise existierenden Parteienapparats für Macron durchaus hilfreich werden könnte.
(Momentanes) Fazit
Wenn weder Hamon noch Mélenchon über ihren Schatten springen können und keiner von beiden zu Gunsten des anderen auf seine Kandidatur verzichten will, wird es für die Linke in Frankreich beinahe unmöglich, den nächsten Präsidenten zu stellen. Hamon, der einen immer noch großen Parteiapparat hinter sich hat, hatte schon angekündigt, dass sein Name in der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen auf dem Wahlzettel aufscheinen werde. Ob Mélenchon, der aus taktischer Sicht wohl eher seine Kandidatur zurücknehmen sollte, um der Linken einene Erfolg zu bescheren, schlussendlich darauf verzichten wird, ist jedoch unwahrscheinlich, auch wegen seines durchaus großen Egos.
Durch die günstige Ausgangslage für Emmanuel Macron wird die Präsidentschaftswahl wohl de facto zu einem Dreikampf zwischen ihm, François Fillon und Marine Le Pen werden.