Politik

Gudrun Mosler-Törnström: “Die Vielfalt unserer Regionen in Europa ist eine unserer Stärken”

posted by Daniel Winter 15. August 2017 0 comments
Im Oktober 2016 wurden Sie als erste Frau in der Geschichte des Europarates zur Präsidentin des Kongresses gewählt, der 200.000 Gemeinden und Regionen aus 47 Ländern Europas vereinigt. Wie ist es Ihnen bislang als Präsidentin ergangen?

Gudrun Mosler-Törnström: Seit 2009 bin ich nun Mitglied im Kongress der Gemeinden und Regionen im Europarat und in all den Jahren konnte ich sehen, wie wertvoll und unbezahlbar die Arbeit ist, die der Europarat macht, nämlich die Förderung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit. Der Kongress konzentriert sich dabei auf die lokale und regionale Ebene – also jene politischen Ebenen, wo die Grundlagenarbeit für die Förderung von Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit passieren muss, um erfolgreich zu sein. Für mich ist es daher eine ganz besondere Ehre, dass ich zur Präsidentin des Kongresses gewählt wurde, noch dazu als erste Frau.

Haben Sie sich konkrete Ziele für Ihre Präsidentschaft gesetzt?

Gudrun Mosler-Törnström: Was die Ziele anbelangt, so muss man zunächst zwischen den inhaltlichen und den nicht-inhaltlichen Zielen unterscheiden. Inhaltlich haben wir uns in unseren Priorities (Schwerpunkte der Kongress-Arbeit) darauf verständigt, dass sich der Kongress in den Jahren bis 2020 vor allem auf die Verbesserung der Qualität der Demokratie auf regionaler und lokaler Ebene konzentriert sowie der Frage nachgeht, wie man ein sicheres Gemeinschaftsleben gestalten kann, das von gegenseitigem Respekt und der Akzeptanz der Vielfältigkeit geprägt ist.

Was die nicht-inhaltlichen Ziele anbelangt, so habe ich mir vorgenommen, die Arbeit des Kongresses bekannter zu machen, da es immer noch viele gibt, die den Europarat nicht wahrnehmen oder glauben, es handle sich um eine EU-Institution. Außerdem bin ich darum bemüht, die Erfahrungen der Europaratstätigkeit auch in Österreich zu verbreiten.

Haben Sie das Gefühl, dass Sie Ihre Ziele umsetzen können?

Gudrun Mosler-Törnström: Natürlich gibt es immer Vorhaben und Ziele, die schwer umsetzbar sind, vor allem wenn es darum geht, die Arbeit des Europarates bekannter zu machen. Das hängt auch damit zusammen, dass wir keine Fördermittel vergeben. Aber es gibt immer wieder besondere Lichtblicke, die mir zeigen, die Mühe lohnt sich. Der Kongress veranstaltet zum Beispiel nun seit ein paar Jahren einmal jährlich eine Anti-Radikalisierungskonferenz. Letztes Jahr fand diese Konferenz in Rotterdam statt, eine Stadt, die schon seit langem sehr erfolgreich Maßnahmen gegen Radikalisierungstendenzen setzt. Radikalisierung kann man nicht ausschließlich mit sicherheitspolitischen und polizeilichen Maßnahmen bekämpfen. Es braucht darüber hinaus vor allem Präventionsarbeit, die dann erfolgreich ist, wenn man Partnerschaften auf lokaler Ebene dazu bilden kann. Nehmen wir ein Beispiel: Ein großes Problem in vielen Teilen Europas ist die mangelnde Perspektive für junge Menschen. Hohe Jugendarbeitslosigkeit und das Gefühl des gesellschaftlichen Abstiegs verbunden mit einem mangelnden Selbstwertgefühl – solche Jugendliche sind anfällig dafür, dass sie sich einer radikalen Gruppe anschließen, weil ihnen die Perspektive für die Zukunft fehlt und dann kommt jemand, der ihnen eine Perspektive bietet und ihnen das Gefühl gibt, gebraucht zu werden, sinnvoll zu sein. Dieses Problem kann man nicht ausschließlich mit sicherheitspolitischen Maßnahmen bekämpfen. Diese Jugendlichen brauchen eine Perspektive und vor allem jemanden, der ihnen dabei hilft, ihr Selbstvertrauen wieder aufzubauen.

Ein gutes Beispiel aus Rotterdam ist ein Box-Studio, dessen Betreiber selbst einst auf die schiefe Bahn geraten ist. Heute arbeitet er eng mit der Polizei zusammen und holt Jugendliche von der Straße und lernt ihnen nicht nur das boxen, sondern damit auch, dass sie sehr wohl Fähigkeiten besitzen, anerkannt werden, Teil dieser Gesellschaft sind. Das ist aber nur ein Beispiel von vielen, das ich in Rotterdam kennenlernen durfte und alle zusammen haben mich bewegt und mir gezeigt, was alles möglich ist. Ich habe daraufhin mit dem Österreichischen Städte- und Gemeindebund Kontakt aufgenommen, um ihnen davon zu berichten. Der Städtebund hat daraufhin für Kommunalpolitiker_innen in Österreich eine Exkursion nach Rotterdam organisiert, um diese Best-Practice Beispiele zu besichtigen. Im Gegenzug wird nun eine Delegation der Rotterdamer Behörden und Polizei nach Österreich kommen, um sich Projekte zur Deradikalisierung im Strafvollzug in Österreich anzusehen. Genau so soll Kongress-Arbeit ausschauen: Gemeinsame Probleme gemeinsam angehen und von anderen lernen.

 

Jede Region in Europa hat ihre ganz besonderen Eigenheiten und Reize.

 

Seit Ihrer Wahl zur Präsidentin sind Sie viel in Europa unterwegs und treffen Lokal-, Regional- und Bundespolitiker_innen aus allen 47 Mitgliedsstaaten. Welche Erfahrungen machen Sie dabei?

Gudrun Mosler-Törnström: Zunächst möchte ich mal hervorheben, dass jede Region in Europa ihre ganz besonderen Eigenheiten und Reize hat. Die Vielfalt unserer Regionen in Europa ist eine unserer Stärken und beeindruckt mich immer wieder aufs Neue. Trotz aller Unterschiede gibt es aber so vieles, was wir alle teilen. Sei es eine gemeinsame Geschichte oder auch ähnliche Problemlagen. Ein großes Problem ist beispielsweise die Ausdünnung des ländlichen Raums und das damit verbundene Wachstum der Ballungszentren, das alle Länder vor Herausforderungen stellt. Übrigens auch ein Schwerpunkt-Thema des Kongresses für die nächsten Jahre. Wir sind nun auf der Suche nach Best-Practice-Modellen, um diesem Trend entgegen wirken zu können.

Ein Land, das Sie seit Beginn Ihrer Kongress-Tätigkeit begleitet ist die Ukraine. Wie erleben Sie die Veränderungen in dem Land und wie würden Sie die aktuelle Lage einschätzen?

Gudrun Mosler-Törnström: Immer wenn ich in die Ukraine reise, bin ich aufs Neue erstaunt, wie motiviert die Menschen dort sind, das Land voran zu bringen und wie groß die Hoffnung in das Projekt Europa ist. Während sich bei uns eine EU-Skepsis verbreitet, sind es gerade jene Länder wie die Ukraine, die darauf hoffen, dass sie eines Tages Teil dieses besonderen Projektes sein dürfen. Das ist allerdings noch ein langer Weg.

Doch gerade auf lokaler und regionaler Ebene ist der Pro-Europa Gedanke so stark in den Köpfen verankert, dass auch ein Wille zur Veränderung und Mitgestaltung spürbar ist. Wir waren jetzt gerade in der Ukraine, um ein einwöchiges Seminar mit LokalpolitikerInnen und Vertreterinnen von NGOs zu veranstalten. In diesen Seminaren sind wir immer sehr darauf bedacht, dass Praktiker von Praktikern lernen können. Also der Austausch zwischen Lokalpolitiker_innen bringt unserer Ansicht nach mehr, als ein rein theoretischer Vortrag. In dieser Woche wurden viele Projekte ausgearbeitet, die auch zum Teil vom Kongress weiterbetreut werden. Der Enthusiasmus, mit dem vor allem die JungpolitikerInnen in solche Seminare kommen ist in Worten kaum beschreibbar.

Welche Chancen sehen Sie für die Zukunft der Ukraine?

Gudrun Mosler-Törnström: Durch die Annektierung der Krim gibt es immer noch sehr viele Binnenflüchtlinge in der Ukraine. Etwa zwei Millionen Menschen sind auf der Flucht. Europa sollte also weiterhin bemüht sein, eine friedliche Lösung des Konflikts zu erzielen, damit die Menschen wieder in ihre Heimat zurückkehren können. Ansonsten kann es passieren, dass auch diese Menschen eines Tages gen Westen ziehen.

Das Land kämpft zum Teil erfolgreich gegen Korruption und ist bemüht, dem historisch bedingten Zentralismus Dezentralisierungstendenzen entgegen zu setzen. Oder einfach gesagt, nicht jeder Behördengang und jeder Bescheid sollte in Kiew beantragt werden müssen. Hier ist auch die Unterstützung des Kongresses wichtig, dessen „Charta der lokalen Selbstverwaltung“ von allen Mitgliedsstaaten ratifiziert wurde und die den Gemeinden genau jenen Spielraum gibt, den sie zur Selbstverwaltung brauchen. Da ist zum Beispiel festgeschrieben, dass Gemeinden mit entsprechenden finanziellen Mitteln ausgestattet sein müssen, um ihren Aufgaben nachzukommen. Wie schaffe ich die bestmögliche Infrastruktur für meine Bürger_innen, welche Mitsprachemöglichkeiten gibt es auf lokaler Ebene, wie kann Transparenz erzielt werden? Wie funktioniert die Konsultation zwischen Regierungsebene und den Kommunen? Diese und viele weitere Fragen werden hier behandelt.

Hinzu kommt natürlich das Know-How aus den einzelnen Mitgliedsstaaten, das zur Verfügung gestellt wird. Die Ukraine hat zum Beispiel großes Interesse an der österreichischen Abfallwirtschaft, unserem öffentlichen Verkehr oder unserem dualen Ausbildungssystem. Da ist die österreichische Expertise gefragt. Hier können wir die Ukraine unterstützen.

Wenn es um Flüchtlinge geht, so sind es vor allem die südlichen Länder Europas, die sich oft im Stich gelassen fühlen. Sie waren kürzlich in Griechenland und haben dort mit LokalpolitikerInnen auch über dieses Thema gesprochen. Wie ist Ihre Einschätzung?

Gudrun Mosler-Törnström: Die Bürgermeister_innen der betroffenen griechischen Inseln sind zwar sehr bemüht, die Situation unter Kontrolle zu halten aber sie stoßen an ihre Grenzen bzw. haben diese schon längst erreicht. Zum Teil befinden sich auf diesen Inseln mehr Flüchtlinge als EinwohnerInnen. Dennoch ist der Zusammenhalt groß und die Bemühungen, Unterkunft, Verpflegung und medizinische Basisversorgung bereit zu stellen, reißen nicht ab. Das Management der Bürgermeister_innen ist beeindruckend, vor allem wenn man bedenkt, dass Griechenland selbst seit vielen Jahren mit einer Krise zu kämpfen hat. Ein großes Problem ist auch die medizinische Versorgung auf den Inseln. Es gibt zu wenig medizinisches Personal, auf den Inseln fehlt es an Ärzten. Das Problem des Hausärztemangels bzw. des Mangels an Allgemeinmediziner_innen kennen wir ja auch in Österreich. Auf einer Insel nimmt dieses Problem allerdings angesichts der langen Wege aufs Festland nochmal andere Dimensionen an. Die Forderung nach einer besseren Unterstützung der europäischen Staaten reißt daher auch nicht ab. Ob Griechenland oder Italien – wir können diese Länder nicht länger alleine lassen. Sie brauchen unsere Unterstützung und Solidarität – und mit „uns“ meine ich natürlich Europa!

Sie haben vorhin über die Vielfalt der Regionen Europas gesprochen. In zwei Regionen Europas gab bzw. gibt es Bestrebungen zu einem Unabhängigkeitsreferendum. Kann eine autonome Region funktionieren und gilt das auch für die beiden Regionen Schottland und Katalonien?

Gudrun Mosler-Törnström: Es gibt durchaus ein sehr gutes Beispiel für das Funktionieren einer autonomen Region: die Autonome Region Baskenland. Die Basken haben sich in einer Volksabstimmung für die Eigenständigkeit entschieden und sind daher seit 1979 eine autonome Region in Spanien. Die Volksabstimmung wurde damals von der spanischen Regierung anerkannt. Die Basken sind selbst für ihre Einnahmen und Ausgaben zuständig, besitzen also die Steuerhoheit und haben sich dafür verpflichtet, einen jährlichen Fix-Betrag an die spanische Regierung abzuführen. Die Basken waren dabei sehr erfolgreich in ihrer Entwicklung. Während Bilbao, die größte Stadt der Autonomen Region Baskenland, einst eine Industriestadt war, entschied man sich beim Weg in die Autonomie dazu, einen völligen Neustart zu wagen. Die Autonome Region Baskenland sollte zu einer Kultur- und Tourismusregion umgestaltet werden. Heute kann man z.B. das Guggenheim-Museum besuchen, das weltweite Bekanntheit erfährt. Die Basken haben also einen mutigen Schritt gewagt, haben die Verantwortung über ihre regionale Entwicklung und die Finanzen übernommen und sind damit erfolgreich.

Ein weiteres positives Beispiel wie es gehen kann, ist Schottland. Die Regierung in London stimmte dem Referendum zu, bei dem die SchottInnen über die Unabhängigkeit vom Vereinigten Königreich abgestimmt haben. Das Ergebnis ist bekannt, sie haben mehrheitlich für den Verbleib gestimmt. Die SchottInnen haben sich allerdings im Einvernehmen mit der britischen Regierung entschieden.Die Voraussetzungen in Katalonien sind damit nicht vergleichbar. Katalonien führt jetzt ein Referendum gegen den Willen der spanischen Regierung durch. Zwei Fronten stehen sich gegenüber. Wie soll das funktionieren?

Der Landtag hat gerade Sommerpause, gibt es auch im Europarat eine Sommerpause?

Gudrun Mosler-Törnström: Es gibt zwar keine Sommerpause an sich, aber es ist natürlich auch im Europarat in den Sommermonaten wesentlich ruhiger als das restliche Jahr. Es ist also auch die Zeit, wo ich wieder Energie tanken und mich in Ruhe auf die anstehenden Herbst-Termine vorbereiten kann. Im Oktober findet wieder die Sessions-Sitzung des Kongresses statt, eine einwöchige Tagung, wo zweimal jährlich alle Delegierten des Kongresses zusammentreffen. Das Meta-Thema bei der kommenden Sessions-Sitzung ist die „Dezentralisierte Politik zur erfolgreichen Integration von Migrant_innen“.

Auch die Anti-Radikalisierungskonferenz wird im November wieder stattfinden, dieses Mal in Barcelona. In Middleborough wird eine Studie des Kongresses zur Umsetzung von Menschenrechten auf lokaler und regionaler Ebene vorgestellt. Ein offizieller Besuch in Armenien ist für November geplant. Es wird also ein spannender Herbst.

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