Politik

Tunesien: Ausgangspunkt des Arabischen Frühlings und ein Hoffnungsschimmer?

posted by Daniel Winter 2. Dezember 2017 0 comments

Kongress-Präsidentin Gudrun Mosler-Törnström im Gespräch über die Staatsreform und die Partizipation von Frauen in Tunesien.

Es war am 17. Dezember 2010: In der tunesischen Stadt Sidi Bouzid übergießt sich der damals 26-jährige Mohamed Bouazizi mit Benzin und zündet sich selbst an. Der Grund: Der Gemüsehändler hat keine Hoffnung mehr auf eine Zukunft, keine Chance auf eine feste Arbeit, trotz guter Ausbildung. Hinzu kommt die Korruption im Land, die Schikanen der Polizei. Am 4. Januar stirbt Mohamed Bouazizi. Nur zehn Tage später beginnt die Revolution, als der amtierende Präsident Zine el Abidine Ben Ali, der 23 Jahre lang diktatorisch über das Land herrschte, vertrieben wird. Zunächst ging die Jugend auf die Straße, Student_innen, Absolvent_nnen, etc. und langsam ergriff die Revolution das ganze Land. Der revolutionäre Funke sprang auch auf andere arabische Länder über. Während der Arabische Frühling in Ägypten scheiterte und in Syrien und Libyen im Bürgerkrieg mündete, bleibt Tunesien als einer der letzten Hoffnungsschimmer, der vom Arabischen Frühling noch übrig ist. Eine umfassende Staats- und Verwaltungsreform wurde bereits in Gang gesetzt. Nächstes Jahr sollen erstmals in der Geschichte Tunesiens Gemeinderatswahlen durchgeführt werden. Gudrun Mosler-Törnström, Präsidentin des Kongresses im Europarat, war vor Ort. Wir haben nachgefragt:

Sie sind als Präsidentin des Kongresses nach Tunesien gereist, um sich vor Ort ein Bild über die begonnene Staats- und Verwaltungsreform zu machen. Tunesien ist weder Mitglied im Europarat noch ein europäisches Land. Warum engagiert sich also der Europarat in Tunesien?

Mosler-Törnström: Die Zusammenarbeit mit Tunesien ist Teil des Nachbarschaftsprogramms des Europarates. Der Europarat setzt sich für die Förderung der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit und der Menschenrechte ein, mit dem Ziel, Frieden in Europa zu schaffen und zu sichern. Der Frieden in Europa setzt eben auch ein gutes Verhältnis zu den Nachbarstaaten voraus. Ein gutes Verhältnis braucht wiederum ein funktionierendes, politisches System vor Ort, klare Strukturen und Verantwortlichkeiten. Wir brauchen Partner, mit denen wir auf Augenhöhe verhandeln können, wo wir Gewissheit haben, dass Abmachungen eingehalten werden. Die Förderung von Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit darf daher nicht an der europäischen Außengrenze enden, wenn wir den Frieden in Europa sichern wollen. Daher ist es ganz klar, dass der Europarat auch bemüht ist, die Nachbarländer bei der Entwicklung und Verankerung demokratischer Strukturen zu unterstützen.

Hinzu kommt, dass der so genannte Arabische Frühling eine breite, von der Zivilgesellschaft getragene Revolution war, die in Tunesien ihren Ausgangspunkt fand und zu einer Protestwelle wurde, die sich auf immer mehr arabische Länder ausgedehnt hat. Der Europarat hat die Entwicklungen mit viel Aufmerksamkeit verfolgt und beschlossen, eine Süd-Mediterrane-Partnerschaft ins Leben zu rufen. Der Europarat kann dank seiner knapp 60-jährigen Geschichte auf einen großen Wissensschatz zurückgreifen, sowohl wenn es um Verfassungsfragen als auch um Justizreformen und die Verankerung demokratischer Strukturen geht. Im Zuge dieser Süd-Mediterranen-Partnerschaft unterstützen wir Tunesien und Marokko dabei, ihre Staats- und Verwaltungsreform umzusetzen.

Sind die Entwicklungen in Marokko und Tunesien vergleichbar?

Mosler-Törnström: Ja und nein. Sie sind insofern vergleichbar, weil es in beiden Ländern intensive Bestrebungen und einen großen Wunsch nach Veränderung und Demokratie gibt. Das sieht man auch in dem Willen, einen Dezentralisierungsprozess in Gang zu setzen. Beide Länder sind beispielsweise bemüht, eine Gemeindeebene im Land zu verankern und die regionale Ebene zu stärken. Gemeindevertretungen wie wir sie kennen, gibt es ja in diesen Ländern bislang nicht.

Was beide Länder massiv voneinander unterscheidet, ist, dass der Reformprozess in Tunesien auf eine revolutionäre Bewegung zurückzuführen ist. In Tunesien kommt dieser Reformwille also direkt aus der Bevölkerung und wird daher von einer breiten Basis getragen. In Marokko hingegen wird die Staatsreform eher „von oben“ getragen, denn es war der neue König, der die Reform in Gang gesetzt hat.

Sie waren nun in Tunesien, um sich ein Bild von der Situation vor Ort zu machen. Wie ist die Entwicklung in Tunesien und was ist vom Arabischen Frühling übrig geblieben?

Mosler-Törnström: Bereits 2011 begann man in Tunesien damit, eine neue Verfassung zu erarbeiten. Der Zeitplan konnte nicht ganz eingehalten werden, denn man wollte die neue Verfassung innerhalb eines Jahres verabschieden. Aber im Jänner 2014 war es dann soweit und die neue Verfassung wurde mit einer gewaltigen Mehrheit von 200 Stimmen (12 Gegenstimmen, 4 Enthaltungen) angenommen, wobei eine Mehrheit von 145 Stimmen schon ausreichend gewesen wäre. Die Verfassung schreibt nicht nur eine geteilte Exekutive, sondern auch eine Beschränkung der Religion vor, also sie weist dem Islam nur einen begrenzten Raum zu. Die Verfassung schreibt auch das Ziel fest, dass in den gewählten Kammern genauso viele Frauen wie Männer vertreten sein sollen – das ist einzigartig in der arabischen Welt.

Kommendes Jahr sollen im Zuge der Dezentralisierung aller Voraussicht nach erstmals Gemeinderatswahlen stattfinden. Der Europarat unterstützt das Land dabei, die Lokalwahlen vorzubereiten und  es soll auch eine Wahlbeobachtung vom Kongress des Europarats geben. Es freut mich besonders, dass die Gleichberechtigung von Frauen und Männern auch bei der Gemeinderatswahl mitgedacht wird. So soll es eine horizontale und eine vertikale Frauenquote geben. Das bedeutet, dass nicht nur auf den Listen für die Gemeinden selbst eine Frauenquote gilt, sondern auch quer übers Land betrachtet, die Frauenquote erfüllt sein muss. Also müssen Frauen im ganzen Land in den Gemeindevertretungen vertreten sein. Das ist vor allem deshalb so wichtig, weil auch in Tunesien der ländliche Raum wesentlich traditionalistischer und konservativer ist als die Städte. Es reicht also nicht, wenn überproportional viele Frauen in den Städten ein Mandat erhalten. Sie müssen auch in den ländlichen Gebieten zum Zug kommen.

Gudrun Mosler-Törnström nahm im Zuge ihrer Tunesien-Reise auch an einer Fraenkonferenz zum Thema “Frauen in der Gemeindepolitik” teil.

Mehr Frauen in die Politik zu bekommen ist ja auch in Österreich Thema, insbesondere auf Gemeindeebene. Wie kann das in einem patriarchal geprägten Land wie Tunesien funktionieren?

Mosler-Törnström: Im Zuge meiner Tunesien-Reise war ich bei einer Frauenkonferenz zum Thema „Frauen in der Gemeindepolitik“. Ein Saal voller engagierter Frauen und einigen  Männern. Ein Mann war für die Moderation einer Diskussionsrunde zuständig. Bei diesem Meinungsaustausch erteilte er zuerst drei Männern das Wort. Die Frauen im Saal begannen zu protestieren und akzeptierten das nicht. Das zeigt zum einen, dass die Frauen ein gewisses Selbstbewusstsein entwickelt haben. Zum anderen zeigt es, dass die Festschreibung von Quoten allein nicht ausreicht. Es ist ein wichtiger erster Schritt, der einen Kulturwandel im Land einleiten kann und wird. Aber ein Kulturwandel, insbesondere in einem derart patriarchal geprägten Land, braucht natürlich auch Zeit. Sowas geht nicht von heute auf morgen. Sowas kann man nicht verordnen.

Ich bin aber immer wieder fasziniert von dem Mut, der Überzeugungskraft und dem Willen, den diese Frauen an den Tag legen. Die Energie, die von diesen Frauen ausgeht motiviert mich immer wieder und lässt mich hoffen, dass das Land seine positive Entwicklung weiterführen kann.

Ist die Forderung nach Gleichberechtigung auch auf den Arabischen Frühling zurückzuführen?

Mosler-Törnström: Auf jeden Fall. Frauen haben im Arabischen Frühling eine führende Rolle eingenommen. Das Versprechen nach einem positiven Wandel hat ihnen Hoffnung gegeben. Im ganzen Land traten Frauen für die Zivilgesellschaft und ein neues Bild von Gleichberechtigung ein. 2012 wurde eine Petition weltweit veröffentlicht, die sich an die Länder des Arabischen Frühlings gerichtet hat. Die Forderung der Petition: Man soll den Frauen Gleichberechtigung, Respekt und Würde zukommen lassen.

Glauben Sie, dass die Staats- und Verwaltungsreform in Tunesien gelingen kann?

Mosler-Törnström: Man könnte sagen, auf den Arabischen Frühling folgte ein ernüchternder Herbst und ein tiefer Winter. Fraglich ist nun, in welchen Ländern der Frühling wieder kommt. Tunesien ist dabei sicher ein Hoffnungsschimmer im arabischen Raum. Ein Transformationsprozess ist allerdings immer schwierig und mit vielen Unsicherheiten verbunden. Die Hoffnung auf Veränderung, die mit dem Arabischen Frühling aufkeimte, muss bestehen bleiben. Es wird Menschen im Land geben, denen die Entwicklung nicht schnell genug geht. Es wird Menschen geben, denen es heute vielleicht auch nicht besser geht als vor der Revolution, vor allem wenn sie keine Arbeit finden und wenig Zukunftsperspektive haben. Viele Reformen werden Zeit brauchen, ehe sie greifen. Viele Entwicklungen werden langsam von statten gehen. Die Herausforderung besteht darin, die Hoffnung auf eine bessere Zukunft aufrecht zu halten. Aber wie sagt man bei uns so schön „Wo ein Wille, da ein Weg“. Ich sehe den Willen, ich sehe den Weg, ich hoffe und bin zuversichtlich, dass Tunesien sein Ziel erreicht.

Das ist auch für Europa besonders wichtig, wie man am Beispiel der Flüchtlingsbewegungen sieht. Es wird immer wieder davon gesprochen, dass wir Partnerschaften mit nordafrikanischen Ländern brauchen. Das können aber nur Länder sein, wo Menschenrechte gewahrt werden, wo eine gewisse Stabilität im politischen System gegeben ist und wo es eine Staatsmacht gibt, die vom Volk anerkannt wird, denn nur dann können wir Partnerschaften auf Augenhöhe schließen. Es braucht die Basisarbeit des Europarates damit auch die EU handeln kann.

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