Oder auch: Warum es die ÖVP geschafft hat, trotzdem als Kraft der Mitte wahrgenommen zu werden.
In diesem Beitrag werden zwei Studien gegenübergestellt. Er zeigt, wie sehr Wahrnehmung und tatsächliche politische Positionierung der Parteien auseinanderklaffen können. So wird die ÖVP laut einer aktuellen IMAS-Studie (09/2017) als die Partei der Mitte schlechthin wahrgenommen. Zu einem vollkommen gegenteiligen Ergebnis kommt wiederum eine inhaltliche Studie der Friedrich-Ebert-Stifung, welche die Volkspartei im selben ideologischen Segment wie die FPÖ verortet.
These: Die ÖVP hat es in diesem Wahlkampf geschafft, als Mitte wahrgenommen zu werden, weil sie der inhaltlichen Debatte ausgewichen ist und sich selbst als unpolitische Bewegung vermarktet hat.
Das Wort “Ideologie” ist nicht gerade populär. So wundert es auch nur wenig, dass – nicht nur in Österreich – Parteien vielfach darum bemüht sind, möglichst wenig ideologisch zu wirken. Man könnte auch sagen, dass sich die Parteien darum bemühen, sich selbst möglich unpolitisch darzustellen; der Kampf gegen das Establishment, der absurderweise meist von etablierten Parteien ausgerufen wird, fällt ebenso in diese Kategorie. Während Daten (z. B. Manifesto Party Project) zeigen, dass Parteien inhaltlich wieder von der Mitte wegrücken, also zunehmend orthodoxe ideologische Positionen vertreten, ist ihre Kommunikationsstrategie nicht notwendigerweise davon betroffen. Wenn eine sozialdemokratische Partei die Wähler_innen dazu auffordert, sich zu holen, was ihnen zusteht, so führt dies mitunter zu öffentlicher Empörung. Wenn eine Partei jedoch ausschließlich Sujets plakatiert, die ohne politischen Inhalt auskommen, dann gilt dies als gelungener Wahlkampf. So zumindest scheint es, wenn man den derzeitigen Nationalratswahlkampf in Österreich als Beispiel heranzieht. Es gibt allerdings auch andere Beispiele, wie die Labour-Kampagne unter Jeremy Corbyn zeigt.
Die sogenannte Mitte ist nur ein statistischer Wert, aber dennoch nicht irrelevant. So kommt IMAS zum Ergebnis, dass sich der durchschnittliche Wähler bzw. die durchschnittliche Wählerin genau in der Mitte des politischen Spektrums verortet. Konstant übrigens, wie Erhebungen seit 1994 zeigen. Die politische Selbsteinschätzung der Österreicher_innen entspricht also mehr oder weniger einer Normalkurve. Jene Partei, welche die meisten Menschen dieser ideologischen Mitte überzeugen kann, gewinnt zumindest in der Theorie mit hoher Wahrscheinlichkeit die Wahl. “Catch the Middle” sagt man dazu in der Politikwissenschaft. In einem Mehrparteiensystem ist das zwar alles ein wenig komplizierter, weil auch Parteien mit ähnlicher Ideologie miteinander in Konkurrenz stehen, aber das sei nur am Rande erwähnt. Fakt ist: Die genannte IMAS-Studie kommt zum Ergebnis, dass 1.033 befragte Österreicher_innen die ÖVP mit einem Wert von 51 (0=links, 100=rechts) als Partei der Mitte wahrnehmen. Die Studie definiert zwar nicht, was überhaupt mit den Begriffen ‘links’ und ‘rechts’ gemeint ist, aber das ist bei einer solchen Umfrage auch nicht wirklich maßgeblich. Die Wahrnehmung wird schließlich sowohl von ökonomischen, als auch gesellschaftspolitischen Faktoren beinflusst.
Zu einem vollkommen anderen Ergebnis kommt eine Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung, welche die Strategiedebatten der österreichischen Parteien im Vorfeld der Nationalratswahl 2017 ins Visier nimmt und untersucht, wie sich diese während des Wahlkampfes ideologisch posititioniert und thematisch auf gesellschaftliche Stimmungen reagiert haben. Folgende Grafik zeigt, wo sich die derzeitigen Parlamentsparteien aufgrund ihrer inhaltlichen Positionierungen ideologisch verorten lassen. Die Darstellung unterscheidet sich sichtbar von jener in der IMAS-Studie, weil zwischen zwei verschiedenen Dimensionen von Rechts und Links unterschieden wird. Die horizontale Linie bildet das klassische Links-Rechts-Kontinuum ab. Die vertikale Linie, auch GAL/TAN-Dimension genannt, zeigt die gesellschaftspolitische Positionierung der Parteien. Je weiter oben eine Partei verortet wird, desto eher trtt sie für eine liberale Gesellschaft ein. Je weiter unten sie sich befindet, desto mehr stehen Abgrenzung und Law & Order im Zentrum.
Die SPÖ “bewahrte ihre traditionellen Einstellungen zu sozioökonomischen Themen, wie Arbeitsschutz oder Steuermäßigungen für geringere Einkommen. Darüber hinaus regt die SPÖ eine Erhöhung der Renten, die Einführung eines bundesweiten Mindestlohns und die Ausarbeitung politischer Maßnahmen zur Schaffung von Arbeitsplätzen an. Die Partei befürwortet ebenso die Ausweitung staatlicher Auszahlungen im Rahmen eines Elternteilzeitbonus. Neben der Einführung einer Erbschaftssteuer, bestehen die Sozialdemokraten ebenfalls auf die Einführung einer Wertschöpfungsabgabe als Mittel zur Aufrechterhaltung der wohlfahrtsstaatlichen Förderung”, heißt es in der FES-Analyse.
Was die ÖVP anbelangt, so zeigt die Analyse der Friedrich-Ebert-Stiftung, dass ausgerechnet jene Partei, welche der öffentlichen Wahrnehmung nach die politische Mitte darstellt, sowohl gesellschaftspolitisch, als auch ökonomisch Extrempositionen einnimmt. Sie ist außerdem jene Partei, welche sich während des Wahlkampfes ideologisch sogar noch am meisten radikalisiert hat. Eine Ausnahme ist hier die Positionierung zur Kammer-Mitgliedschaft, aber auch diesbezüglich ist Spitzenkandidat Sebastian Kurz bis dato eine klare Aussage schuldig.
“Sebastian Kurz stellt das Thema Migration und die gegenwärtige Asylsituation vor allen in medialen Debatten in den Mittelpunkt und fordert im Wahlkampf fortwährend das Schließen der Mittelmeerroute und die Bekämpfung der Schlepperei. Auch durch die intensive Auseinandersetzung mit Sicherheitsthemen wie Grenzschutz, Überwachung und Terrorismusbekämpfung ist die ÖVP in der unteren Hälfte der konservativen Achse beheimatet. Konservative Ansichten vertritt die Partei auch beim Recht auf Eheschließung, welches heterosexuellen Paaren vorbehalten sein soll. Aufgrund der konservativen Standpunkte erreicht die ÖVP kaum Wählergruppen mit stark progressiver, sozialer Ausrichtung. Es gibt mehrere inhaltliche Überschneidungspunkte mit den Freiheitlichen”, lautet der Befund.
Die anderen Parteien (Grüne, Neos, FPÖ) sind da verortet, wo man sie klassischerweise auch vermuten würde. Was jedoch auffällt, ist, dass die SPÖ ökonomisch in einigen Punkten wieder linker steht als die Grünen, sowie der Umstand, dass FPÖ und ÖVP die einzigen Parteien sind, die eine ideologische Überlappung aufweisen.
Die Interessen hinter der Fassade
Die Zusammenschau beider Analysen (IMAS, FES) lässt den Rückschluss zu, dass die ÖVP unter Sebastian Kurz es geschafft hat, als ideologiefreie moderate Bewegung wahrgenommen zu werden, während sie zugleich jene Partei ist, die sich am meisten von der ideologischen Mitte wegbewegt hat. Obwohl die ÖVP inhaltlich in den meisten Fragen deckungsgleiche Inhalte vertritt wie die FPÖ, wird sie im Gegensatz zu den Freiheitlichen nicht als rechts bzw. rechtspopulistisch wahrgenommen, sondern gilt Menschen, die vermutlich niemals ein Kreuz bei der FPÖ machen würden, als wählbare Option.
Es ist der ÖVP gelungen, als moderate Partei wahrgenommen zu werden, obwohl sie inhaltlich weitgehend FPÖ-Forderungen übernommen hat.
“In der Politik geht es nicht um die Fassade. Da geht es um Interessen, um beinharte Interessen. Wer setzt sich durch, wer steht wofür ein.”
Bundeskanzler Christian Kern (ORF-Sommergespräch 2017)
Ob die ÖVP mit der Strategie, sich als Partei der politischen Mitte darzustellen, indem sie so getan hat, als wäre sie eine unpolitische Bewegung, nachhaltigen Erfolg haben wird, bleibt fraglich. Das Ergebnis der Nationalratswahl 2017 wird, egal wie sie ausgeht, noch keine endgültige Anwort darauf geben. Die gewählte Strategie könnte noch zum Bumerang werden und in wenigen Jahren als klassisches Beispiel eines “politischen Etikettenschwindels” in die Chronik der österreichischen Innenpolitik eingehen.