Ein Reh steht im Garten und schaut mich an. Schaut mich an, wie ich in der Küche Vanillekipferl wuzle und mich frage, ob Carola zurückkommt. Es hat große Augen, die nichts ausdrücken, keine Frage, keine Anschuldigung, keine Vergebung. Die Ohren sind innen ganz flauschig und ab und zu zuckt eines und lässt Schneestaub herabrieseln wie Zucker, der von den Vanillekipferln fällt, wenn Carola sie in sich reinstopft und mir versichert, es seien die besten, die ich je gebacken hätte. Carola sagt immer, wenn man ein Reh sieht, dann darf man sich etwas wünschen. Aber Carola sagt viel, manchmal zu viel.
Meine Finger hinterlassen Fettflecken auf meinem Handy, das stumm neben mir liegt. Ich wuzle ein Vanillekipferl, nehme das Handy, lege das Handy hin, wuzle ein Kipferl. Ich schreibe: Es tut mir leid. Aber das habe ich schon gesagt. Ich lösche es, schreibe: Wer soll nun die Vanillekipferl essen? Pathetisch. Ich lege das Handy weg und starre den Ofen an, während er heiß wird. Unser Streit war leise, anders als sonst. Letztes Jahr ging einmal die Tür kaputt, als sie mit Wut zugeknallt wurde. Heute war der Knall in unserem Inneren, und ich spüre die Splitter in mir.
Das Reh schaut immer noch. Es ist sehr hübsch, aber es hat nur vier staksige Beinchen und keine magischen Kräfte. Es wird vielleicht den Winter nicht überleben. Ich will dem Reh sagen, dass ich nicht an es glaube, aber ich schaffe es nicht. Ich nehme mein Handy und schreibe: Stell dir vor, ich habe mir gerade von einem Reh etwas gewünscht. Aber ich darf nicht sagen, was, sonst geht es nicht in Erfüllung. Bevor ich auf Senden drücke, schaue ich auf. Durch den Garten hüpft der rote Bommel einer Haube. Hüpft mal nach links, mal nach rechts, während Carola durch den Schnee stapft. Das Reh dreht den Kopf, schaut ihr entgegen, bleibt, wo es ist.
Aus dem Ofen duften Vanillekipferl, die jeden Moment verbrennen werden. Im Garten stehen zwei im Schnee und schauen mich an. Carola und das Reh.
Das Bild wurde von der Hallo Salzburg Redaktion mit Dall-E erstellt.
Eine andere Kurzgeschichte von Elisabeth Poleschinskis mit dem Titel „Beistand“ wurde im Juni 2022 vom Literaturhaus Zürich zum Text des Monats gekürt und erscheint demnächst in einer Anthologie: https://literaturhaus.ch/schreibwettbwerb/beistand/